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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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ng
Äagesrettmrg für d»r MerkiSrige BrEerrmg der Ämtsbszirke Heideibers, WLesroch, GLttsheim, Eppinger;, Eösrbsch, MssSach, Buchen, Adelsheim, Bvxbe;g,
TauSerSischsfsheim und Wertheim.

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HsidslSerg, Samsiag, 3. Januar 1920
Ar. 2 » 2. Jahrgang



Verantwortl.: Für innere u. äußere Politik. Volkswirtschaft u.Ieuilletsu: Dr.
8. Kraus, für Kommunales u. soziale Rundschau :I. Kahn,- für Lokales:
O. Seibel,- für die Anzeigen: H. Hoffmann, säntlick in Heidelberg.
Druck und Verlag derilnterbadischen VerlagsanstaltG. m.b. H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: Gchröderstraße ZS.
Fernsprecher: Anzeigen-Annahme 26IZ, Redaktion 2644.

Rückblick.
Kr. Heidelberg, 3. Januar.
Mit einer großen außenpolitischen Hoffnung sind wir in das
8-eue Hahr eingetreten. In der setzten Stunde meldete der Draht,
Katz die Verhandlungen in Versailles (über die S c a p a - F l o w -
frage und die Unterzeichnung des Zufatzprotokolls) einen
günstigen Fortgang nehmen und daß in den ersten Ianuartagen
das Inkrafttreten des Friedens Vertrages zu er-
warten ist. Trotz der schweren in gewissen Punkten einfach nicht
erfüllbaren Bestimmungen des Versailler Vertrages bedeutet sein
Inkrafttreten einen nicht zu unterschätzenden Fortschritt. Es ist
blöde Kinderei und politisch überhaupt nicht ernst zu nehmen, wenn
die rechtsstehenden Parteien in einem fort über den schlechten Ver-
trag und die Regierung schimpfen, die ihn unterzeichnen mußte;
denn ein hartes Muh war es. Der Vertrag ist nun einmal da, von
uns zunächst nicht zu ändern und auf dieser Tatsache haben wir
unsere Realpolitik auszubauen. Wenn er jetzt in Kraft tritt, so
dürfen wir zunächst einmal die Heimkehr unserer armen Gefangenen
erwarten. Zugleich aber tritt endlich, nachdem der Krieg eigentlich
seit November 1918 beendet ist, der Friedenszustand in Europa
ein, d. h. wir kommen endlich aus dem Zustand der furchtbaren
Ungewißheit heraus und bekommen wieder einigennaßen festen
Boden unter die Füße, auf dem wir dann unsere innere, vor allem
aber äußere Politik aufbauen können.
. Das allerschwerste politische Werk, vor welches uns das In-
krafttreten des Friedens-Vertrags stellen wird, ist der Neuaufbau
unserer WeltpsMk. Unsere bisherigen Gegner werden die diplo-
matischen Beziehungen mit uns wieder aufnehmen und es wird
alles davon edhängen, mit welchem Programm, vor allem aber
mit weicher Gesinnung wir die zerrissenen weltpolitischen Fäden
wieder zusamMenkrmpfeu werden. Die alten Grundlagen unserer
Weltpolitik, die „schimmernde Wehr" von Heer und Flotte, sind
ja zusammengrbrvchen. Es kommt nur. alles darauf an, daß auch
das Denken des deutschen Volkes, aller leitenden Stellen insbeson-
dere, völlig umgestellt wird. Nicht darin können wir jetzt unser
Ziel und unsere Ausgabe sehen, daß wir die Interessengegensätze
rrnserrr Kriegsgegner gegeneinander ausspielen. So wird es jetzt
schon wieder von einer ganz unverantwortlichen Hehpresse dem
Vo-k in verdrecherischster Weise ungeraten. Das würde lediglich
zu neuen Koalitionen, zu neuen Verwicklungen und Kriegen führen.
Ganz abgesehen davon, daß uns die Entente Koasilionen, die ihren
Interessen gefährlich sind, nicht erlauben würde,-abgesehen ferner

Wirtjchastsverfassung durch und durch gemeinw-rtfchaftlich und sozial
ausgebauter Staat wird diese Völkerbundspolitik im besten Sinne
? ' '
Einheitsfront in den großen außenpolitischen Fragen möglich sein,
wenn mit Ernst dürangegangen wird, die sozialen Klassengegensätze
auszurilgen. Der Anfang ist gemacht durch die Steuergrsetze, die
vor Weihnachten noch von der Nationalversammlung verabschiedet
worden sind. Die Vermögensabgabe wird in Verbindung
wit der Kriegsgewinn- und Wertzuwachssteuer den großen Besitz
zugunsten des verschuldeten Staates abtragen. Im neuen Jahr
werden weitere große Schritte mit der Reichseinkommensteuer und
swr allem der Erbschaftssteuer zu tun sein. Das Gesetz
Äer die B e t r i e b s r ä t e wird ein erster Anfang zu einer demo-
-'rotijch-fozialistischen Wirtschaftsordnung sein. Weitere Schritte
kWirtschaftsräte, Reichswirtschaftsrat usw.) müßen bald getan wer-
den; vor allem mutz damit ernst gemacht werden, die Großindustrie
(Kohle, Kali, Elektrizität, Eisen- und Maschinenindustrie) durch
SeweiirwirLschastliche Selbstverwaltungskörper planmäßig zu orga-
nisierrn. Wir müßen damit den Anfang machen, weil unser
Schicksal uns dazu zwingt. Wir werden tief in den Sozialismus
hmeiumüssen, wenn wir überhaupt leben wollen. O, wenn doch die
fälschlich so genannten Deutschnationalen und Deutschliberalen ein-
gehen würden, daß man nicht wahrhaft nationale Politik treibt,
wenn man sich elementaren wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Notwendigkeiten gegenüber immer wieder sperrt und stets aufs neue
die Klassengegensätze vertiefen Hilst, sondern wenn man unterstützt,
was dem „Vaterland" nvttut. Uns hilft heute allein Sozialismus
'w Innern und der Völkerbund in der Welt!
Unter den eben angeführten Gesichtspunkten muß auch eine
Hragc betrachtet werden, die gerade am Ausgang des vergangenen
wahres wieder mächtig die Gemüter auch bei uns in Baden erregt
hat: die Frage des deutschen Einheitsstaates. Dreimal ist im ver-
llongcnen Jahr dieses Problem in ein entscheidendes Stadium
irreren, jedesmal ohne eine klare definitive Lösung zu finden. Das
Erstemal nach dein Ausbruch der Revolution; der Einheitsstaat
ichesterle, abgesehen von der ganzen Unorganisiertheit und Plan-
wstgkrit des Zusammenbruches, an dem ehrgeizigen Partikularismus
oieler Revvlutionsminister und an der unglückseligen Entwicklung,
welche die Revolution in Berlin nahm. Das zweitemal bei
^er Schaffung der neuen Reichsverfassung: prinzipiell siegte der
Unitarismus, ohne aber endgültig mit der Scheinfouveränität der
putschen Bundesstaaten aufzuräumen. Zum drittenmal
drängte das Problem zur Entscheidung letzt, als oie Mehrheits-
parteien des preußischen Landtags den Antrag stellten auf Ver-
handlungen der einzelstaatlichen Regierungen mit der Reichsregie-
zwecks Schaffung des deutschen Einheitsstaates. Ueber die
'Momentane taktische Klugheit des preußischen Antrags kann
Wan ja verschiedener Meinung fein; über die Sache selbst aber gibt
I vernünftigerweise aus all den wirtschaftlichen und weltpolitischen
Gründen, die wir oben besprochen haben, nur eine Meinung, näm-

venn ein hartes Muh war es. Der Vertrag ist nun einmal da, von
uns zunächst nicht zu ändern und auf dieser Tatsache haben wir
"O ? ?- Wenn er jetzt in Kraft tritt, so
dürfen wir zunächst einmal die Heimkehr unserer armen Gefangenen
seit November 1918 beendet ist, der Friedenszustand in
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Angewrßheit heraus und bekommen wieder einigennaßen festen
Boden unter die Füße, auf dem wir dann unsere innere, vor allem
ober äußere Politik aufbauen können.
. Das allerschwerste politische Werk, vor welches uns das In-
krafttreten des Friedensvertrags stellen wird, ist der Neuaufbau
unserer WelLpsllE. Unsere bisherigen Gegner werden dis diplo-
matischen Beziehungen mit uns wieder aufnehmen und es wird
alles davon adhärrgen, mit welchem Programm, vor allein aber
inst weicher Gesinnung wir die zerrissenen weltpolitischen Fäden
wieder zufammrnnmpfeu werden. Die alten Grundlagen unserer
Weltpolilik, die „schimmernde Wehr" von Heer und Flotte, sind
w zusammengrdrvchen. Es kommt nur. alles darauf an, daß auch
bas Denken des deutschen Volkes, aller leitenden Stellen insbeson-
dere, völlig umgestellt wird. Nicht darin können wir jetzt unser
Ziel und unsere Ausgabe sehen, daß wir die Interessengegensätze
unserer Kriegsgegner gegeneinander ausfpielen. So wird es jetzt
schon wieder von einer ganz unverantwortlichen Hehpresse dem
Vo-k in verdrecherischster Weise angeraten. Das würde lediglich
zu neuen Koalitionen, zu neuen Verwicklungen und Kriegen führen.
Ganz abgesehen davon, daß uns die Entente Koalitionen, die ihren
Interessen gefährlich Md, nicht erlauben würde,.abgesehen ferner
-davon, daß alle hrlichen Pazifisten und Sozialisten in Deutschland
eine solche Wiederholung der alten unglückseligen Kvalitivnenpolitik
einfach nicht mitmachen würden; diese Art von WeitpolM könnte
unsere Zukunst nicht aufbaüen, da sie Europa nicht die Ruhe brin-
Zen würdö, die'es notwendig braucht, um sich wirtschaftlich und
sinänziell von dem furchtbaren Krieg zu erholen. Wie das Valuta-
problem ein internationales ist, so ist es auch der ganze deutsche
Wiederaufbau. Unsere auswärtige Politik muß echt? und ehrliche
Bölterbundspolitst sein, eine Politik der wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Gemeinsamkeiten. Das ist eine Idee, die aufs Neue
unser Schaffen lohnt, bas eine Arbeit, die uns das verlorene Ver-
Irauc« der Welt wieder gewinnen kann. Und das muß unsere erste
«nd vorneymste Arbeit sein.
Sier stehen wir aber an dem Punkt, wo äußere und innere
Politik aufs engste ineinandergreifen. Nur ein in seiner inneren
Wirtjchastsverfassung durch und durch gemeirrw-rtschaftiich und sozial
aufgebauter Staat wird diese Völkerbundspolitik im dellen Sinne
des Wortes treiben. Und nur dann wird die so notwenoige innere,

ist darangegangen
Der Anfang ist c

Der EnLNmrs eines ReichsLagsWahLgesetzes
Berlin, 3. Januar. (W.B.) Die Vorentwürfe zum Reichs-
tagswahlgesetz werden in den allernächsten Tagen del Oefsentlichkeit
unterbreitet werden. Damit sind, wie die „D. A. Zig." meldet, die
feit Wochen und Monaten gemachten Vorwürfe der rechtsstehenden
Presse über die Hinausziehung des Wahlgesetzes gegenstandslos ge-
worden.

Mangelhafte KohLerwersorgurrg in Berlin
Berlin, 3. Januar. (W.B.) Die Kohlenverforgung Groß-Ber-
lins verschärfte sich in den letzten Tagen derartig, daß man für die
Industrie das Schlimmste befürchten muß. Die Siemens-Schuckert-
Werke, die A.E.G. und die Schwarzkopfwerke haben eben nur noch
sehr wenig Kohlen. Die Ludwig Löw-Werke liegen fast feit langer
Zeit still und haben keine Aussicht, in absehbarer Zeit den Betrieb
wieder aufnehmen zu können.

Wirtschaftliche Annäherung.
Berlin, 3. Januar. W.B.) Der Lok.-Anz." berichtet, daß
nach Blättermeldungsn aus Buenos-Aires dort ein Tausch-
unternehmen mit einem Kapital von 10 Millionen Pefa ins Leben
gerufen worben ist, das sich die Proviantierung Deutschlands zum
Ziel gesteckt hat.

Waffenstillstand.
Kopenhagen, 3. Januar. (W.B.) National Tidende meldet
aus Riga, daß der Waffenstillstand zwischen Estland und
Sowjet-Rußland in der letzten Nacht unterzeichnet worden
ist. Er läuft vorläufig auf 8 Tage, wird dann automatisch ver-
längert, wenn er nicht gekündigt wird.


sich volle Zustimmung. Denn kein Staat fühlt jetzt so, wie das im
alten Deutschlaich so übermächtige Preußen, wie bedeutungslos und
inhaltsleer im Rahmen der neuen demokratischen Reichsverfassung
seine bundesstaatl. Selbständigkeit geworden ist. Aus allen Gebieten
ist das Reich der gesetzgebende Souverän, sei es mit ausschließlicher,
sei es mit konkurrierender, fei es mit normierender Gesetzgebungs-
kompetenz. In der Hand des Reiches liegt die Militär-, die Ver-
kehrs-, die Wirtschafts- und die Finanzhoheit. Was sollen da noch
politisch souveräne Bundesstaaten? Sie können höchstens Hemm-
schuhe einer gesunden organischen Entwicklung zur Einheit sein.
Ans dieser Erkenntnis heraus hat gerade Preußen den erste» Schritt
getan.
Die „Karlsruher Zeitun g", die als erste durch ihre
Warnung vor der „Gefahr der Verpreußung" den preußischen An-
trag zu kompromittieren suchte, beurteilt das ganze preußische Pro-
blem, wie es sich heute darstellt, völlig falsch; die .Karlsruher Ztg."
bekämpft das alte Preußen, das heute als politisches System gar
nicht mehr existiert. Jenes Preußen, in dem auf Grund des un-
gerechten Drestlassenwahlrechts dec vstelbische Großgrundbesitz und
die rheinische Schwerindustrie herrschten, jenes Preußen, das mit
seiner gewaltigen Militärmacht nicht nur die anderen Deutschen,
sondern ganz Europa terrorisierte; jenes Preußen, das dem Reiche
Kaiser und Kanzler gab, dem Bundesrat präsidierte und verfassungs-
mäßig die Aufrechterhaltung der bestehenden (d. h. reaktionären)
Zustände in der Hand hätte — jenes Preußen ist nicht mehr. Seine
Militärhoheit ist auf das Reich übergegangen, feine Verfassung ist
demokratisch wie die jedes anderen Landes, seine Eisenbahnen gehen
auf das Reich über, an den Reichssteuern wird es feinen Bedürf-
nissen entsprechend wie jedes andere Land beteiligt — kurz: Preußen
ist heute ein Land wie die anderen Länder auch. Und daß es durch
seine Größe einen wichtigeren Faktor im Reiche darstellt wie z. B.
Baden oder Hessen, das wird solange bleiben, als es Bundesstaaten
gibt. Wer dieses Problem lösen will, der muß eben den Einheits-
staat rmt weitestgehender provinzieller Selbstverwaltung wollen.
Das neue Jahr wird unter dem Zeichen der Reichstagswahl
stehen. Zwei große Fragen der äußeren und inneren Politik wer-
den im Mittelpunkt des Wahlkampfes stehen: Völkerbund und
Einheitsstaat. Mit diesen Ideen ziehen wir in den Kampf;
in diesen Zeichen müssen wir siegen!


Politische Übersicht

Der Schöpfer der Reichsverfassung über den Einheitsstaat.
Dr. Hugo Preuß hat auf Ersuchen der „Franks. Ztg." feine
Ansicht über das Problem des Einheitsstaates dargelegt. Er
sagt u. a.:
Nicht das ist das praktisch bedeutsame Manko, daß die Revolution
nicht das doktrinäre Thema eines „Einheitsstaates" verwirklicht hat,
sondern daß sie mit der Beseitigung der Dynastien nicht auch die Hin-
dernisse beseitigt hat, die einer zweckmäßigen und dem natürlichen
Zusammenhang entsprechenden territorialen Neugliederung des Reiches
entgegenstanden. Aber über die Tatsache, daß die Revolution dies eben
nicht getan hat, konnte die Verfassung unmöglich hinweggehen; eine von
der Nationalversammlung einfach dekretierte territoriale Neugliederung
wäre undurchführbar gewesen, ja sie hätte wahrscheinlich das ganze Ver-
fasiungswerk in Frage gestellt. Sie mußte also die bestehende Gliederung
vorläufig bestehen lassen, jedoch sie zugleich eben nur als vorläufig an-
erkennen und. die zukünftige Neugliederung vorbereiten. Dies ist nach
zwei Richtungen hin geschehen. Einmal eröffnet der Artikel 18 einen
verfassungsmäßigen Weg für die zukünftige Neugliederung unter Mit-
wirkung des Reiches; und eine Resolution der Nationalversammlung
machte der Reichsregierung zur Pflicht, dis Vorbereitung durch eine eigene
Zentralstelle in die Hand zu nehmen. Dieser Artikel zeigt deutlich genug,
daß er nur mühsam und unter mannigfachen Kompromissen zustandege-
bracht worden ist; das war bei der Natur des Problems, dessen Kern die
preußische Frage bildete, umso unvermeidlicher, als auch die Gefährdung
der äußeren Grenze des Reiches infolge der Friedensbedingungen hinein-
spielte. Sodann hat die Verfassung die Zuständigkeiten des
Reiches in einer Weise ausgebaut, die den Scheidelinien der Landes-
grenzen immer mehr von ihrer Bedeutung nehmen muß und dem Reich
die Fähigkeit gibt, den Beruf zu erfüllen, der ihm nach einer sachgemäßen,
territorialen Neugliederung zufallen wird: als, der Zentralgesetzgebung
und Zentralverwaltung Deutschlands.

An einer anderen Stelle bekennt sich Dr. Preuß zur starken
Dezentralisation der inneren Verwaltung, die einem
herrschenden Zuge des deutschen Volksgerstes entspreche. Gewiß habe
die -dynastische preußische Hauspolitik gegenüber den widerstrebenden
Stammen mit der autgezwungenen Verwaltung durch landfremde Beamte
Erfolg gehabt, aber doch nur in ben Zeiten, die weder ein nationales
Bewußtsein, noch überhaupt ein Schuldbewußtsem des Volkes und seiner
Stämme kannten. Dieses Mittel der Ausammenschwcißung habe schon
in den neuen preußischen Provinzen nicht Wurzel geschlagen. Die sofort
nach dem Sturze der Monarchie einsetzenden LoslSsungsbcstrebungen in
allen diesen Ländern hatten ihre verstärkte Kraft aus der populären
Ae ... -mag gegen eine innere Verwaltung „von Berlin he?' durch
„landfremde" Beamte gezogen.
Hat also dieses System, so fährt Preuß fort, schon in den neupreußi-
fchen Gebieten versagt, so wäre der Versuch feiner Ausdehnung auf dar
Reich vorläufig von siedel. Die Möglichkeit, einen pommerischen Land-
rat als Bezirksamtmann nach Bayern zu schicken, lehnen die besten
Freunde der Reichseinhcit unbedingt ab. Ohne die Schutzbestimmung
des'Artikels 16 gegen landfremde Beamte der unmittelbaren Reichs-
verwaltung wären Reichseisenbahn und anderes kaum durchzusetzen ge-
wesen. Auch der vielgerühmie Einheitsstaat, wenn er erreichbar wäre,
müßte seine — allerdings territorial vernünftiger gestalteten — Reicks-
Provinzen sofort mit einer entsprechenden Autonomie für die innere Ver-
waltrmg ausftaüen. Da er nicht erreichbar ist (nicht ohne Verwaltung»,
autonomie seiner Glieder. D. Red.), streben wir dem notwendigen Ziel
aus dem von der natürlichen Entwicklung gewiesenen Wege zu. Diese
natürliche Entwicklung wird, wie gerade jetzt in der Finanz- und Steuer-
verwaltung, fo noch aus manchem anderen Gebiet den Ausbau einer
unmittelbaren Reichsverwaltung auch in örtliche mittlere
und untere Behörden mit sich bringen, auf die Dauer können die Reichs»
Zentralbehörden nicht ohne solchen Unterbau fein. Die rechtlichen Ansatz-
punkte dafür sind bereits in der Reichsverfassung vorbereitet. Daneben
aber wird in weiterem Umfang die innere Verwaltung der Autonomie
der Länder und Gemeinden überlassen bleiben müssen. Solche Dezentra-
lisation durch eine stark entwickelte Selbstverwaltung im Rahmen der
nationalen Organisation des Reichs macht bann mechanische Selbst-
bestimmung gegen landfremde Beamte überflüssig.
Der Gang der Dinge, jo fährt Preuß fort, lasse vermuten, daß sich
auf diesem Wege gesteigerter Autonomie und Selbstverwaltung auch das
preußische Problem und damit auch das der territorialen Neu-
gliederung überhaupt lösen möge. Der Unterschieb zwischen auto-
iwtchei- Ländlern und autonomen Provinzen vermindere sich so immer
mehr, bis er sich gänzlich verflüchtige.
Neue Dokumente.
Der reaktionäre Hohenzsller.
Die „Voss. Ztg." beginnt mit der Veröffentlichung von Briefen
Wilhelms II. an den russischen Zaren Nikolaus, die während
der russischen Revolution aufgefunden wurden und demnächst in
Buchform erscheinen sollen. Nachfolgend drucken wir einen der
Briefe ab, der wieder ein neuer schlagender Beweis ist
für die gänzliche politische Unfähigkeit des verflossenen Wilhelm
und ein neues Dokument für den reaktionären Geist, mit dem
Deutschland regiert wurde.
Berlin, 7. Februar 1895.
Lieber Niki!
Ealojfstein wird, wie ich hoffe. Dir den ganzen Hausen Porzellan
ohne Schaden überbringen können. Er ist angewiesen, den Tisch so zu
decken, wie er aussähe, wenn Du ein Diner für 50 gäbest, so daß Du
das Ganze in Augenschein nehmen kannst. Ich hoffe, baß meine Manu-
saktur alles getan hat, um Deine Wünsche zu erfüllen, und daß das
Geschenk für Euch beide nützlich sein wird.
Seitdem die traurigen Wochen, die Du zu durchleben hattest, ver-
flossen sind, hat sich in Europa viel ereignet. Du hast einen trefflichen
alten Diener Deiner Vorgänger, den alten Giers, verloren. Er "war
ein sehr guter Mensch, für den ich viel Achtung empfand. Fr ankreich
hat überraschenderweise sein Staatsoberhaupt und seine- Regierung ge-
wechselt und durch eine Amnestie die Türe all den schlimmsten siebe!»
tätern geöffnet, die die früheren Leute unter großer Schwierigkeit haben
einsperren lassen. Der Impuls, der dadurch den Demokraten und
der revolutionären Partei gegeben wurde, ist auch hier fühlbar.
Mein Reichstag führt sich so schlecht wie nur möglich auf. Er ssbwingt
vorwärts und rückwärts zwischen ben Sozialisten, die von den Juden an-
getrieben werden, und den ultramontanen Katholiken. Beide Parteien
sind, soweit ich sehen kann, bald reis, samt und sonders gehängt zu werden.
In England wankt das Ministerium unter allgemeinem Hohn-
gelächter seinem Sturze zu. Kurz, überall wird das „principe de la Mo-
narchie" sich stark zeigen müssen. Ich freue mich deshalb über die aus-
gezeichnete Rede, die Du neulich vor den Deputationen in Beantwortung
einiger Reformwünsche gehalten hast. Sie war sehr treffsicher
und hat überall einen großen Eindruck gemacht.
Zur Eröffnung unseres Kanals, für Juni, habe ich alle europäi-
schen Regierungen eingeladen. Kriegsschiffe nach Kiel zu senden. Ich
hoffe, auch Deine Flotte wird durch ein oder zwei Schiffe vertonen jein.
Mit ehrerbietigem Gruß an Deine Mamy und vielen Grützen an
Ali; verbleibe ich
Dein Dich herzlich liebender Freund Willy.

Das Neichsvenvaltungsgericht.
Berlin, 2. Januar. Die Vorarbeiten für die Errichtung
eines Reichs Verwaltungsgerichtes sind, wie die
„Deutsche Allgemeine Zeitung" erfährt, im Reichsministerium des
Innern nunmehr soweit gediehen, daß der vorläufige Entwurf des
Reichsgesetzes hierfür demnächst veröffentlicht und damit der Stel-
lungnahme aller beteiligten Kreise zugänglich gemacht werden kann.
Die Zuständigkeit des ReichsverwÄtungsgerichtes wirb im Gesetz
einzeln angeführt. Die Zuständigkeit ist besonders vorgesehen auf
dem Gebiete der Staatsangehörigkeit und der Freizügigkeit, des
Vereins- und Verfammlungsrcchtes, der Auswanderungsfteiheit,
der Glaubens- und Gewissensfreiheit, des Wahl- und Stimmrechts,
des Beamienrechts usw.
Das Bundesamt für das H e i m a t s w e s e n, das über Er-
satzstreitigkeitett dei öffentlicher Armenhilfe entscheidet, soll in dem
Reichsverwaltungsgericht aufgehen. Nicht ausgenommen sind in
seine Zuständigkeit Streitsachen aus dem Gebiete der öffentlichen
Versicherung, der öffentlichen Bewirtschaftung, des Finanz-, Steuer-
und Zvllwefens. Dagegen soll der Gerichtshof zur Entscheidung
über Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Reiche und den Län-
dern, über die Gültigkeit bundesrechtlicher Vorschriften
und über die Ausführung von Reichsgesetzen berufen sein. Dabei ist
der Verwaltungsrechtspflege der Länder ein weiter Spielraum ver-
blieben. Streitfälle auf Grund landesrechtlicher Bestim-
mungen soll das Reichsverwattungsgericht nicht an sich ziehen. Nur
auf Antrag der Länder, die kein eigenes Oberverwaltungsgericht
einrichten oder unterhalten wollen, soll er die Aufgaben eines solchen
 
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