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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.44126#0083
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TaS-KMung Mr di« kvsrktätige BesSireruRg der Lm'söezirke Heidelverg, Wiesloch, GLnsheim, EppiKge«, GkerSach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxberg,
Tauberbischofsheim u«d Wertheim.


Kcheimmtttei-Anmgen werden nicht ausgenommen.
W*NifftsA«^eu:8-V-6 Uhr. Sprechstunden der Redaktion. 11-12 Ähr.
P»Uch«<tk»nt»Kartsnche «r.22577. Tel.-Adr.: VolkszeitungHeidelberg.

Hei-eL-erg, Donnerstag, 22. Januar 1^20
Ar. ilS » 2. Jahrgang

. >!>-n 1.. _M-E-S-—WWS«^«S
Derantwortl.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft ».Feuilleton: Nr.
G.Krau«, für Kommunales u. soziale Rundschau: I. Kahn- für Lokales:
O. Geidel, für die Anzeigen: H.Hoffmann, sämtlich in Heidelberg.
Druck und Verlag der lluterbodischen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: GchrSderstraße ZS.
Fernsprecher: Anzeigen-Annahme 2673, Redaktion 2648.

Sozialismus und Pazifismus.
Dvn Dr. I. P. Butz.
Wir stehen heule vor zwei Möglichkeiten politischer Weltentwick-
^tg. Entweder: Völkerbund im Sinne Wilsons (d. h. nicht
Staatenbund mit dem Geist der heiligen Allianz und noch weniger:
Weltwirtschaftssyndikat der siegreichen Kapitalmächte zur Behcrr-
Mung der Rohstoff- und Absatzgebiete) mit sozialem Ausgleich nach
onneu und Gleichberechtigung nach Archen, also: Welterneuerung
«rf der Grundlage der Gesinnungswandlung. Oder: Verschärfung
der inneren Gegensätze und des Elends durch die permanente Ge-
waltherrschaft einer Diktatur von rechts oder links. Aufgabe des
Politikers ist es, diese unverkennbaren geschichtlichen Tendenzen der
Gegenwart festzuhalten, nicht mit Schönredereien darüber hinwegzu-
täuschen.
Da die erste Lntwicklungsmöglichkeit eine gemeinsame Aielfor-
herung der pazifistischen und der sozialistischen Außenpolitik bedeu-
tet, liegt es nahe, sich mit dem ganzen Problem: Sozialismus-
Pazifismus auseinanderzusetzen. Der politische Pazifis-
mus steht auf dem Boden des nationalen Staats und erstrebt bar-
scher hinaus den höheren Typus einer Gemeinschaftsorganisativn
der Völker, die mit allen Rechts- und Machtmitteln zur Schlichtung
von irgendwelchen Konflikten zwischen den einzelnen Nationen aus-
gestattet sein soll. Sein Ziel ist eine Politik des friedlichen Aus-
gleichs und der Verständigung über die außenpolitischen Inter-
essensphären der Staaten. Er richtet sich gleichermaßen gegen die
ganz egozentrische imperialistische Expansionspolitik der großen
Mächte, wie gegen die ständig mit dem Feuer spielende, auf heraus-
fordernde Gesten und Prcstigeerweiterung gegründete politische
ratio der Militärs. Die Forderung des politischen Pazifismus ist
eine internationale Politik, die darauf hinarbeitet, daß die Völker
Lch in Frieden entwickeln können. Die Pazifisten täuschen sich dar-
über, daß der Zustand der Weltbefriedung nicht allein mit den
Mittet» der mechanischen Organisation gesichert werden kann, sie
wisse», daß der sittliche Wille der Kulturwelt für diese Neuordnung
der internationalen Beziehungen erst geschaffen werden muß.
Gerade weil der Pazifismus in den praktischen Fragen der
internationalen Organisation (Völkerbund, Schiedsgerichtsbarkeit,
Abrüstung) mit dein Programm der Sozialdemokratie weitgehend
tibereinstimmt, ist es von einigem Interesse, danach zu fragen, in
welchen Zusammenhängen und in weichen prinzipiellen Verschieden-
heile« sich das ganze Verhältnis des Pazifismus zum Sozialismus
bewegt. Dabei muh zunächst jene Seite der modernen sozialistischen
Bewegung beachtet werden, die mit dem Streben nach einer von
dem Klassenverhältms befreiten Gesellschaft an die moralischen
Energien in der Geschichte der Menschheit appelliert. Max
Adler hat dieses zentrale Problem einer Umgestaltung der
Staatspolitik nach ethischen Normen in seiner ausgezeichneten
Schrift „Politik und Moral" am Wurzelpunkt getroffen, wenn er
zu dem Ergebnis kommt: „Die Forderung, daß die Macht nur für
wirklich wertvolle Zwecke aufgeboten werden dürfe, setzt voraus, daß
die Macht überhaupt nicht mehr als Gewalt der einen gegen die
anderen existiert, sondern als gemeinsame Kraft aller empfunden
wird. Das heißt, sie setzt eine gerade bezüglich des Machtgrbrauchs
einmütige und widerspruchslose Gemeinschaft voraus, also die Auf-
hebung des Klassengegensatzes und die Ersetzung des Machtverhält-
nisses durch Gemeinschaftsorganisation." Hier tritt aus dem ideo-
logtschen Zusammenhang in der Zielstellung des Sozialismus und
des Pazifismus der rein sozialistische Gesichtspunkt einer nationalen
Gerneinschaftsorganisation als Vorbedingung für eine jede Völker-
vrganisanon klar zutage. Bevor die Lebensform der Völkergemein-
schaft als der höhere menschliche Verbandstypus der gesellschaftliches
Entwicklung, zu dem Sozialismus und Pazifismus hinstreben, näher
anaiisiert werden kann, muß die Unterfrage beantwortet sein, ob
die Solidarität der Kulturwelt, die in dem Bund der Völker kri-
stallisiert werden soll, überhaupt realisierbar ist ohne Rücksicht auf
den Stand und die Lösung des Gesellschafts- und Klassenprvblems
der einzelnen staatlichen Glieder. Der Pazifist ist allzu leicht ge-
neigt, sein großes Prinzip der Ersetzung der Macht durch das Recht
als ein ausschließliches, an keine anderen politischen Zu-
sammenhänge gebundenes Postulat der auswärtigen
Neuorientierung aufzufassen. Er hat wohl heute erkannt,
daß es weniger auf die Schaffung der juristischen Formen für die
Gesellschaft der Nationen als auf die pazifistische Gesinnungswand-
lung der Menschen ankommt, daß der äußere Schiedsgerichtshof der
Völker in seiner Rechtsprechung sich ganz auf jenen inneren Schieds-
gerichtshof stützen muß, der, wie Kant sagt, im Menschen selbst auf-
geschlagen ist. Dieses ideelle Moment, das der Sozialismus von
seiner materialistischen Weltanschauungsposition aus bisher bedenk-
lich zu vernachlässigen geneigt war, hat der Pazifismus, der über
die Probleme der bloßen Zweckorganisation hinausgreist, mit größ-
ter Berechtigung in den Vordergrund gestellt. Und dennoch blickt
die pazifistische Bewegung auf den Gesichtskreis kühner Ideologie
beschränkt, wollte sie beute noch übersehen, wo das Ergebnis der
Auseinandersetzung zwischen der pazifistischen Idee eines Wilson und
den realen den Staat der Westmächte politisch beherrschenden Kräf-
ten so erschreckend klar zutage getreten ist, daß jede wirkliche Gemein-
schaftsorganisation der Kulturvölker, die jenseits des Reiches der
kriegerischen Gewaltmethoden steht, an die Voraussetzung der rest-
losen Beseitigung des Gewaltgebrauches und der Ausbcutungsmög-
lichketten einer Volksschicht durch die andere gebunden ist.
Den inbezug auf die politische Neugestaltung der Welt so emi-
nent bedeutsamen Zusammenhang von innerer und äußerer Politik
kann der Pazifismus nicht in sich ausgenommen haben, weil er kein
System ist, das auf einer wissenschaftlichen Gesamtkritik der wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung unserer Zett fundiert
ist. Es muß aber ausgesprochen werden, daß der Kampf des So-
zialismus für die Abschaffung der Ausbeutung und der wirtschaft-
lichen Gewaltpolitik des kapitalistischen Unternehmers und letzten
Endes für den Aufbau einer den Machtgebrauch auf die Gesamt-
heit übertragenden, sozial und ökonomisch gerecht gegliederten Ge-
sellschaft von den Anhängern des Pazifismus in viel stärkerem
Maße gestützt werden mußte, als dies bisher in Erscheinung getre-
ten ist. Wer die Ausbeutung eines Volkes durch das andere als
«in verwerfliches Prinzip erkannt hat, muß logischerweise auch die
kapitalistische Verknechtung der Arbeiterschaft als unmoralisch ver-
dammen. Er kann natürlich nicht gläubiger Jünger des orthodoxen

Dr. Mayer-Kaufbeuern von der franz.
Regierung bestätigt.
Paris, 21. Januar. Die deutsche Regierung ersuchte
durch Vermittlung der schweizerischen Regierung die franzö-
sische Regierung um die Genehmigung der Ernennung von
Dr. Mayer-Kaufbeuern zum deutschen Geschäftsträger
in Paris. Die Regierung erteilte nachmittags die Ge-
nehmigung.
Wirtschaftsabkommen mit Holland.
Haag, 21. Jan. Die Abmachung zwischen Holland und
Deutschland, eine Anleihe von 200 Millionen Gulden betreffend, ist
heute zustande gekommen. Die Verzinsung beträgt 6 Prozent und
die Umlaufszeit beläuft sich auf 10 Jahre. In dieser Abmachung
ist vorgesehen, daß Deutschland ein Quantum von einer halben
Million Tonnen Steinkohle jährlich an Holland liefert. Ueber
die weiteren Bestimmungen ist vorderhand noch sehr wenig zu sagen,
fest steht jedoch, daß die ganzen Abmachungen auf der Basis eines
Veredelungswirtschastsabkommens aufgebaut sind.
Beginn der Auswanderung.
Amsterdam, 21. Januar. Wie die Blätter melden
sind in Oldenzaal 875 deutsche Auswanderer eingetroffen.
Sie reisen über Rotterdam nach Brasilien.
Die Räumung im Osten.
Königsberg, 21. Ian. Wie das Wehrkommando I
mitteilt, ist die Räumung des an Polen abzutretenden Ge-
biets des Wehrkommandos I beendet. Es umfaßt die
Landesteile Soldau und Lauten, sowie den Kreis Löbau.
Die Räumung ist ohne Zwischenfall abgelaufen.
Clemenceaus Abschied vom Obersten Rat.
Paris, 21. Januar. Nach Beendigung der Sitzung
des Obersten Rates verabschievete sich Elemenceau im Bei-
sein von Millerand, Lloyd Georges, Nitti, Marli und Voller.
Sie sprachen dem Scheidenden ihr Bedauern und den Dank
für die geleistete Arbeit aus. Clemenceau antwortete in
einer längeren Rede in der er besonders auf das gute Ein-
vernehmen der alliierten Nationen hinwies.

Marxismus sein, er kann sich auch nicht in -er Gesellschaft des Spar-
takusbundes bewegen, schon deshalb nicht, weil er jede Diktatur ab-
lehnen muß, aber, wenn seine politischen Ziele nicht an einem Wider-
spruch in sich selbst kranken, so muß er mit all den sozialistischen
Forderungen einig gehen, die auf die Beseitigung der Herrschasts-
verhältnisse innerhalb der Gesellschaft des Staats hinauslaufen.
Wenn heute von radikal- demokratischen Pazifisten die Forderung
erhoben wird, daß an die Stelle des materialistischen Interessege-
dankens das Bekenntnis zur sozialen Rechtsidee auch im Bereich des
internationalen Lebens trete, wenn also, wie es Rudolf Kircher sehr
gut ausgedrückt hat, die Uebertragung des Sozialisierungsgedankens
auf das Gebiet der internationalen Beziehungen empfohlen wird, so
ist das im Grunde dasselbe, was Karl Marx schon an jener berühm-
ten Stelle seiner Inauguraladresse an die Internationale vertreten
hat, wo es als eine Pflicht des Proletariats bezeichnet wird, „die
einfachen Gesetze der Moral und des Rechts zu verkünden, die
ebensowohl die Beziehungen einzelner regeln als auch für den Ver-
kehr der Nationen die obersten Gesetze sein sollen." Diese ethischen
Postulate nach einem neuen Rechtsverkehr der Völker, die von dem
Meister des historischen Materialismus herrühren, sind zugleich die
großen Ziele des politischen Pazifismus, der sich im internationalen
Leben nur dann durchsetzen und zu einer höheren Lebensform der
Völkergemeinschaft hinführen kann, wenn jeder einzelne nationale
Staatsverband in seinem eigenen Haus gesellschaftlich, ökonomisch
und kulturell den demokratischen Sozialismus durchgeführt hat und
wenn der einzelne Mensch auf die ethische Gemeinschafsgesinnung
vorbereitet ist. Solange wir uns noch nicht in diesem Stadium der
ktaaüichen Entwicklung befinden, ist kein Bund der Völker denkbar,
sondern höchstens ein Intcressensyndikat der verschiedenen national-
kapitalistischen Staatskörper, wie es der „Rat der Vier" zum Ent-.
setzen aller Friedensfreunde zustande gebracht hat. Die Welt muß
erst tief k« den Sozialismus hinein, bevor sie von Pazifismus durch-
drungen und geläutert werden kann.

Politische Ueberstcht
Russisches und deutsches Rätesystem.
Ueber die Agitation, die in manchen Kreisen der Industrie mit
den demagogischsten Mitteln gegen das Betriebsrätegesetz getrieben
wurde, schreibt die „Frankfurter Zeitun g":
In den letzten Wochen haben die industriellen Gegner des Betriebs-
rätegesetzes die Agitaion aufs äußerste gesteigert. Dabei sind Mittel ange-
wandt worden, von denen man nicht mehr zu sagen weiß, ob sie nur auf
Unkenntnis der Dinge oder auf etwas anderem beruhen. Bezeichnend da-
für ist die Art, wie man die Abschaffung der russischen Betriebsräte herein-
zog. Ein Organ deutscher Industriellen fand in einem russischen Blatt
einen Bericht des Arbeitskommisiars der Sowjetrepublik, der darlegte,
warum die Betriebsräte in Rußland aufgehoben worden sind. Diesen
Bericht hat man überseht und eine industrielle Korrespondenz hat ihn
überallhin verbreitet, um den Eindruck zu erwecken, daß man in Deutsch-
land im Begriffe sei, eine Sache einzuführcn, die in Rußland vollständig
Fiasko gemacht habe. Wußte von all denen, die sich an dieser Agitation
beteiligten, wirklicb niemand, baß es sich da um zwei verschiedene Dinge
handelt? Es ist längst bekannt, daß die Svwjetregierung die Betriebs-
räte wieder aufgehoben hat, es ist auch bekannt, warum das geschah. Es
ist nichts Neues, wenn wir in dem Berichte des russischen Arbeitskommis-
iars lesen: „Die Hcwvtursache der -geradezu katastrophalen Lage, in der
sich die russische Industrie befindet, liegt in dem Fehlen jeder Disziplin
und Ordnung in den Fabriken. Die Betriebsräte und Fabrikkomitees, die

dazu berufen waren, Ordnung in den Fabriken zu schaffen, haben nuck
geschadet und den- letzten Rest von Disziplin zum Schwinden gebracht,
sowie eine vollständige Verschleuderung des Fabrikinventars nach sich ge-
zogen. Alle diese Umstände haben uns gezwungen, die Betriebsräte auf-
zuheben und Diktatoren mit uneingeschränkter Gewalt über Leben und
Tod der Arbeiter an die Spitze der wichtigsten Betriebe zu stellen." Diese
Aeußerung ist sicherlich sehr interessant, obgleich sie, wie gesagt, nichts
Neues bringt. Sie ist die offizielle Bestätigung, daß das Rätesystem in
den Fabriken zusammengebrochen ist. Aber das russische Rätesystem! Das
System, das alle Macht in di« Hände der Arbeiter legte, die den Auf-
gaben, die ihnen damit übertragen waren, unmöglich gewachsen sein
konnten. Das System, das auch in Deutschland die Kommunisten und
die Unabhängigen mit der Diktatur des Proletariats, die sie a»streben,
einführen möchten, das aber eben nicht eingeführt wird, weil das von der
Nationalversammlung angenommene Gesetz etwas ganz anderes ist! E»
ist eine unerhörte Irreführung der Oeffentlichkeit, daß das Verkrachen des
russischen Rätesystems in solcher Weise gegen das deutsche Betriebsräte-
gesetz ausgcspielt wird. Die beiden Systeme sind so verschieden von einan-
der wie Unsinn und Vernunft. Es war unsinnig, erwarten, daß die
Arbeiter imstande sein würden, nrit ihren Räten die Industrie zu führen.
Denn das ist der Sinn des russischen Systems: es handelt sich nicht etwa
nur uni Mitwirkung der Arbeiter bei der Betriebsgestaltung in natürlichen
Grenzen, sondern die Arbeiter hatten geradezu das Ganze zu bestimmen,
was freilich schief gehen mußte. Das vernünftige Experiment, etwa in der
Weise, wie cs das deutsche Gesetz vorzeichnet, haben die Russen gar nicht
gemacht. Sie konnten das wohl nicht mehr, nachdem ihr System geschei-
tert mar, und es blieb ihnen nur der Diktator übrig. Das deutsche System
aber geht den rechten Weg und wird nicht scheitern, die Industrie nickt zu
Grunde richten, nicht einmal schädige». Ts gibt schon Industrielle getlng,
die das wissen.
Otto Bauer über -en Anschlußgedanten.
Vor -em Finanzausschuß -er deutsch-österreichischen Na-
tionalversammlung kam es am Samstag zu einer Kritik -er Lüest-
vrientierung -cs Staatskanzler Dr. Renner, dem der -eutschna-
tionale Abgeordnete Dr. Waber den Vorwurf machte, er habe sich
sowohl in Prag wie in Paris durch einige Liebenswürdigketten irre-
führen lassen. Insbesondere habe Clemenceau den deutsch-öster-
reichischen Staat mit einer Grausamkeit sondergleichen behandelt.
Es sei wahr, -aß in -er kritischen Zeit die Anschlußbewegung in
Deutschland zu wenig Verständnis gefunden habe, sowohl bei der
sozialdemokratischen Regierung wie bei gewissen industriellen Kreisen.
Trotzdem sei der Anschluß an Deutschland die einzige Rettung
Deutsch-Oesterreichs. Er verlange mehr Würde dem Ausland gegen-
über und stärkere Betonung der Lebensnotwendigkeiten. Staats-
kanzler Dr. Renner erwiderte, Clemenceau sei bemüht gewesen,
Deutsch-Oesterreich in der schwierigen Lage zu helfen, so daß man
nicht von „Grausamkeit sondergleichen" sprechen dürfe.
Darauf hielt der frühere sozialdemokratische Staatssekretär des
Aeußeren, Dr. Otto Bauer, eine Rede, die vielleicht als Auf-
takt zu einer neuen politischen Betätigung des Ballplatzes ange-
sehen werden darf. Er sagte über die Anschlußfrage: „Es ist rich-
tig, daß das Deutsche Reich außerordentlich ängstlich bestrebt war,
jede Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu vermeiden; es hat
unsere Bewegung für den Anschluß als einen Kampf für unser
Selbstbestimmungsrecht ausgefaßt." Die Behauptung, so führte
er weiter aus, als ob man in Deutschland gegen den Wunsch ünd
Willen Deutsch-Oesterreichs gehandelt hätte, sei unrichtig. In Ber-
lin war man nur der Meinung, daß jedes Bestreben des Anschlus-
ses den falschen Schein erwecken würde, als handelte es sich um eine
deutsche Annexion. Es habe vollständige Uebereinstimmung zwi-
schen Wien und Berlin bestanden.
Dem Vorwurf des Mangels an Würde gegenüber dem Aus-
land müsse zugestimmt werden, aber er treffe In erster Linie gewisse
hochkapitalistische und reaktionäre Kreise. Die innere Politik dürfe
nicht Wege gehen, durch die der Anschluß an Deutschland für die
Zukunft gesperrt werde.
__ . ,
Presseverbote.
Frankfurt a. M., 20. Ian. Auf Anordnung der zustän-
digen Behörde wurde heute das „Volksrech t", das Organ der
U.S.P. für Südwestdcutschland, auf zehn Tage verboten.
Köln, 20. Jan. Nach der „Kölnischen Zeitung" wurden die
meisten Blätter der Unabhängigen im rheinisch-westfälischen
Industriegebiet verboten, so die „Volkszeitung" in Düsseldorf,
die „Bergische Volksstimme" in Remscheid, die „Bergische Arbeiter-
stimme" in Solingen und die „Volksstimme" in Hagen .

Prozeß Erzberger-Helfferich.
Erzbergers Rechtfertigung.
Verlin, 20. Ian. Nach einer kurzen Mittagspause wurde Reichs-
minister Lrzberger zunächst in seiner Eigenschaft als Nebenkläger
vernommen. ,
In einer 17 Jahre langen Tätigkeit macht man manchmal Fehler in
der Politik. Ich erkläre jedoch, mein Streben war immer, dein armen
deutschen Volke zu dienen. Im Jahre 1905 unterstützte ich die Politik
des Generals Deimling. Wenn eine Regierung Fehler macht, so ist es
Pflicht eines Abgeordneten, diese Fehler aufzudecken. Der Beklagte be-
mängelt meine Methode der Materiatbeschasfung. Mir ist eine Unmenge
Material zugcgangen. Der Beklagte wirft mir u. a. vor, daß ich meinen
Ministerkollegen durch Abfangen eines Briefes ausspioniert habe. Der
Angeklagte sagt weiter, ich hätte mich bei dem Ausbruch des Krieges der
Reichslemmg zu Propagandazwecken angeboren. Es ist unrichtig un-
falsch. Es geschah nicht auf meinen Wunsch, sondern auf Drängen der
Parteileitung, die wollte, daß ich meine Beziehungen im Auslande aus-
nutzte. Mein Bestreben war es, das kann ich ja heute sagen, unter den
Katholiken in den neutralen Ländern eine für Deutschland günstige Stim-
mung herbeizuführen. Daß ich mit Erfolg gearbeitet habe, steht fest.
Weiter behauptet der Beklagte, ich hätte im Gegensatz zur amtlichen Po-
litik meine eigene Politik getrieben. Er hat dabei auf meine Wiener
Beziehungen hingewiesen. Ich bestreite dies nicht, ich habe sie aber im-
mer nur im Interesse des deutschen Volkes ausgenüht. Ich hielt jede Poli-
tik für falsch, die nicht Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit unserer Bun-
desgenossen nimmt. Aufgabe der deutschen Politik mußte es sexy, einen
annehmbaren Frieden zu erlangen, solange das deutsche Volk stark war
und etwas in die Wagschale zu werfen hatte. Aus diesem Gesichtspunkte
sind wir auch zur Friedensresolution des Reichstags gekommen.
Nun komme ich zu der Besprechung des WafscnstMstaneds. Ich
protestiere hierbei energisch'gegen die Unterstellung, daß ,ch hier die deut-
schen Interessen preisgegeben und die Handelst otte ausgcliefert habe. Ich
hab sie nur der Entente zur Verfügung gestellt, und zwar für Lebens-
mitteltransporte. Wäre dies nickt geschehen, dann hätten wir 1918 keine
Lebensmittel mehr gehabt und der Zusammenbruch der Ernährung wäre
 
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