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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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Tauberbischofsheim und Wertheim.

Bezugspreis: Monatlich elnschl. Trägerlohn 2.sc> Mk. Anzeigenpreise:
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mm breit) 2.— Mk. Lei Wiederholungen Nachlaß nach Taris.
Geheimmittel-Anzeigen werden nicht ausgenommen.
Geschäftsstunden: 8-0,6 Uhr. Sprechstunden der Redaktion: 11 -t2 llhr.
Postscheckkonto Karlsruhe Nr. 22Z77. Tel-Adr.: Volkszeitung Heidelberg.

Heidelberg, Freitag, 6 Februar 1920
Nr. AI * 2. Jahrgang

Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft u.Feuisteton: Dr.
8. Kraus; für Kommunales u. soziale Rundschau: 2. Kahn; für lokales!
O.Gelbe!; für die Anzeigen: H. Hoffmann, sämtlich in Heidelberg.
Druck und Verlag der Unterbadlschen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: Schröderstraße 39.
Fernsprecher: Anzelgen-Annahme 2673, Redaktion 264«.

Die Auslieferungsfrage.

Paris, 6. Febr. (W.T.B.) Ein Sonderkurier hat am Mitt-
woch abend Paris verlassen, um die Liste der auszuliefernden Per-
sonen in Berlin zu überreichen. Der Botschafterrat hat die Be-
gleitnvte nochmals beraten und den Text abgeändert. Die Note
soll auf telegraphischem Wege nach Berlin übermittelt werden.
Berlin, 6. Febr. (W.T.B.) Der Reichsrat stimmte
'n seiner heutigen Sitzung dem heute kundgcgebenen Standpunkt
der Regierung in der Auslieserungsfrage zu. Der Reichsrat teilt
vie Empörung des deutschen Volkes über die Zumutung der Entente
Und ist überzeugt, dass die Bevölkerung aller deutschen Länder ent-
schlossen hinter der Reichsregierung steht.
Dr. Mayer (Kaufbeuren) nach Berlin berufen.
Berlin, 5. Febr. D r. Mayer (Kaufbeuren) weilte dem
„B. T." zufolge gestern in München zur Erledigung von Privat-
angelegenheiten. Er ist von der deutschen Regierung gebeten wor-
den, nach Berlin zurückzukommen und wird heute hier erwartet.
Berlin, 5. Febr. Der nach Berlin- berufene Geschäfts-
träger für Paris, D r. Mayer (Kaufbeuren) soll einstweilen in
Berlin bleiben, um an den Beratungen in Berlin
teilzunehmen.

Das Auslieferungsverlangen an die Neutralen.
Basel, 5. Febr. Der Matin meldet, daß die Liste der
ouszuliefernden Deutschen im Abzug an die Regierungen der neu-
tralen Länder abgesandt wurde. Eine besondere Note
der alliierten Mächte wird den neutralen Staaten noch zugehen, in
welcher die Festnahme und Auslieferung der auf der Liste
stehenden Deutschen, die eines Verbrechens bezicyngt sind und sich
Nach neutralen Ländern geflüchtet haben, verlangt wird.
Die Prehinformation meldet aus Stockholm: Es wird be-
stätigt, daß Skandinavien, Spanien und die S ch w e i z
ihre Solidarität gegenüber der Haltung der holländischen Regie-
rung in der Frage der Kaiserauslieferung bekundet haben.

Lersners Schreiben an Millerand.
London, 5. Febr. Die englischen Zeitungen veröffentlichen
den Text des Schreibens Freiherrn v. Lersners an den Präsi-
denten der Friedenskonferenz, Millerand. Es lautet folgender-
waßen:
Paris, 4. Februar 1920.
Herr Präsident!
Euere Exzellenz haben mir heute abend die bvvte übermittelt,
die die Namen der Deuticyen enthält, deren Auslieferung die alli-
ierten und assoziierten Mau-te verlangen. Ich haoe oen Vertretern
der alliierten und assoziierten Mächte zehnmal scyriju^, und drei-
Sehmnal mündlich aufs ^^dringlichste die Grande der Unmög-
lichkeitder Auslieferung dargelegt. Wie immer auch die soziale
Stellung und der Name der Beschuldigten sei, ich rufe Euerer
Exzellenz die Erklärungen, die ich stets wiederholte, in Erinne-
rung. Man wird keinen deutschen Beamten finden,
der sich dazu hergeben würde, in irgend einer Weise zur Ausfüh-
rung des Auslieferungsbegehrens beizutragen. Es käme einer Bei-
hilfe gleich, wenn ich die Note Euerer Exzelleilz der deutschen
Regierung übermitteln würde und ich schicke sie Ihnen beigeschlossen
zurück. Ich habe meiner Regierung mitgeteilt, daß ich meine Funk-
kionen nicht mehr weiter ausüben kann und Paris mit
dem nächsten Zuge verlassen werde.
Genehmigen Sie, Herr Präsident, die Versicherung meiner
Hochachtung gez.: v. Lersner.

Der Standpunkt der deutschen Regierung in der Auslieferungsfrage.
Wir haben gestern mitgeteitt, daß die Regierung auch jetzt noch
auf dem Standpunkt der Note stehe, welche sie am 25. Januar
der Entente zugehen ließ. Diese Note hat, wie jetzt bekannt wird,
folgenden Wortlaut:
. Die deutsche Regierung hat den Regierungen der alliierten
Und assoziierten Hauptmächte anfangs November v. Is. die ver-
hängnisvollen Folgen dargelegt, die eine Durchführung der
>n den Artikeln 228 und 230 des Friedensvertrages enthaltenen
Bestimmungen über die Auslieferung von Deutschen haben
würde. Diese Darlegungen sind damals in einer den Vertreter
der alliierten und assoziierten Hauptmächte überreichten, hier noch-
mals beigefügten Aufzeichnung zusammengefaßt worden.
Die deutsche Regierung hat zur Vervollständigung dieser Dar-
legungen noch nachdrücklichst darauf hingewiesen, daß das Ausliefe-
sungsbegehren der alliierten und assoziierten Regierungen in
Deutschland zweifellos die schwersten Erschütterungen
Mcht nur auf politischem, sondern auch auf wirtschaft-
lichem Gebiete auslösen müsse. Insbesondere wurden die durch-
greifenden Maßnahmen, welche die deutsche Regierung zur Ver-
meidung des wirtschaftlichen Zusammenbruchs vor allem auf dem
Gebiete der Produktion, insbesondere von Kohlen, zu ergreifen
)M Begriffe steht, auf das Aeußerste gefährden, wenn nicht unmög-
lich gemacht. Dies würde natürlich die ernsteste Rückwirkung auf
Me Erfüllung der wirtschaftlichen Verpflichtungen aus dem Frie-
densvertrage unmittelbar nach sich ziehen. In der Aufzeichnung
dvm 5. November v. Is. wurde zugleich der Weg einer für Deutsch-
land erträglichen und plastisch durchführbaren Regelung der Ange-
legenheit angedeutet. .
Die alliierten und assoziierten Hauptmächte haben inzwischen
*wch Kenntnis von einem weiteren Schritt der deutschen Regierung
^halten, der erneut ihren ernstesten Willen erweist, die der
^"iegsverbrechen »der Kriegsvetgehen schuldigen Deutschen der
gerechten Bestrafung zuzuführen. Es handelt sich um das
don den deutschen gesetzgebenden Körperschaften einstimmig ange-
Iwinmene gleichfalls in einem Abdruck angeschlossene Gesetz zur Ver-
legung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 18. Dezbr.
1919.
Der Friedensvertrag ist in Kraft getreten, ohne daß die
Alliierten und assoziierten Mächte ihren Willen zu erkennen ge-
^ben hätten, in dieser Angelegenheit den dringenden Vorstellun-
der deutschen Regierung Rechnung zu tragen. In der klaren.

durch die Eindrücke der letzten Wochen nur noch verstärkten lieber-
zeugung von dem außerordentlichen Ernst der Si-
tuation hält es die deutsche Regierung aber für ihre unabweis-
liche Pflicht, in letzter Stunde noch einmal an die alliierten und
assoziierten Mächte heranzutreten, um die Angelegenheit in einer
die Interessen dieser Mächte befriedigenden, für Deutschland prak-
tisch möglichen Erledigung durchzuführen. Sie wiederholt und
präzisiert deshalb noch einmal den bereits früher zur Erwägung
gestellten Vorschlag und gibt demgemäß folgende

Erklärung
ab:
Die deutsche Regierung wird die deutschen Strafverfol-
gungsbehörden anweisen, gegen alle Deutschen, die ihr von den
alliierten und assoziierten Regierungen als eines
Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges schuldig
genannt werden werden, unverzüglich ein Strafverfahren auf
Grund des zu übersendenden Materials einzuleiten. Sie wird alle
Gesetze, die der Einleitung eines solchen Verfahrens etwa entgegen-
stehen, außer Kraft setzen, insbesondere die bestehenden Amnestie-
gesetze usw. aufheben. Zuständig für das Verfahren soll das höchste
deutsche Gericht, das Reichsgericht in Leipzig sein. Außerdem
wird der jeweils beteiligten alliierten und assoziierten
Regierung das Recht eingeräumt, sich an dem Verfahren un-
mittelbar zu beteiligen, lieber alle Umstände dieser Beteiligung
könnte eine besondere Vereinbarung getroffen werden. Es wäre z.
B. eine Regelung in dem Sinne denkbar, daß die beteiligte und
assoziierte Macht dem Verfahren einen Vertreter ihrer Interessen
beiordnete, der befugt wäre, von allen die Sache beteffenden
Schriftstücken und Asten Kenntnis zu nehmen, neue Beweisstücke
vorzulegen, Zeugen und Sachverständige zu benennen, sowie über-
haupt Anträge zu stellen, für die Interessen der verletzten Partei
zu plädieren. Allen von dem Vertreter gestellten Beweisanträgen
würde stattzugeben sein. Solche Zeugen und Sachverständigen,
die Angehörige einer alliierten oder assoziierten Macht sind, würden
auf Antrag des Vertreters von den zuständigen Gerichtsbehörden
ihres Heimatstaates vernommen werden, wobei dem Angeklagten
oder seinem Vertreter die Anwesenheit zu gestatten wäre. Die vom
Reichsgericht erlassenen Urteile würden mit ihrer Begründung ver-
öffentlicht werden. Die deutsche Regierung ist ferner bereit, über die
Einsetzung einer zweiten Instanz in Verhandlung zu treten. Die
deutsche Regierung ist überzeugt, daß sich auf diesem Wege, und
nur auf diesem Wege die den Artikeln 228 bis 230 des Friedens-
vertrags zugrundeliegenden Absichten der alliierten und assoziierten
Mächte sich tatsächlich verwirklichen lassen. Wirken diese
Mächte dem entgegen, aus der Auslieferung der angeschuldigten
Personen bestehend, so würden sich aller Voraussicht nach nur
solche Personen freiwillig ausländischen Gerichten stel-
len, die sich schuldlos fühlen und deshalb auf eine Frei-
sprechung rechnen können. Die wirklich Schuldigen dagegen wür-
den der Bestrafung entgehen, da die Regierung, wie in
der einliegenden Aufzeichnung näher dargelegt ist, keine Organe
finden würde, die bereit wären, die Verhaftung und Auslieferung
durchzuführen.
Die Aufzeichnung.
Der Standpunkt der deutschen Regierung, daß die Ehre und Würde
des deutschen Volkes es nicht vertragen würden, wenn Volksgenossen die
des Vergehens gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges beschuldigt
werden, an fremde Gerichte ausgeliefert werden sollten, kannn gegen-
wärtig nicht geltend gemacht werden. Aber die Tatsache, daß das ganze
deutsche Volk ohne Unterschied der Klasse oder der politischen Partei dieses
Gefühl teilt, ist von entscheidender Bedeutung. Wenn trotzdem die deut-
sche Regierung versuchen würde, die Ausführung durchzuführen, so würde
sie auf allen Seiten aus den schärfsten Wider st and stoßen. Zu-
nächst würbe es wahrscheinlich notwendig sein, ein neues Gesetz zu
schaffen, aus Grund besten man zwangsweise zur Ausführung der Aus-
lieferung, besonders zur Festnahme der auszuliefernden Personen
schreiten könnte. Wenn die Mitglieder der gegenwärtgen Regierung
einen solchen Gesetzentwurf verlegen würden, so würden sie in der Na-
tionalversammlung nicht die nötige Majorität dafür finden.
In ihren eigenen Parteien würden sie nicht Gefolgschaft finden, denn
jede Partei, welche dem Gesetz zustimmen würde, würde bei den nächsten
Wahlen kompromittiert sein. Aber selbst wenn ein solches Gesetz ange-
nommen würde, würden die Anordnungen der Regierung hinsichtlich der
Auslieferung in Wirklichkeit unausführbar sein. Die Beamten, die bei
der Auslieferung ihrer Volksgenossen mitzuwirken hätten, würden das
Gefühl haben, persönlich dafür verantwortlich zu sein und würden sich
nicht dazu hergeben, einen Deutschen festzunehmen, um ihn den Gerichten
der alliierten und assoziierten Mächte auszuliefern. Die Regierung
würde gegenüber einer solchen Haltung ohnmächtig sein.^ Sie könnte
diese Beamten aus ihren Steiltmgen entfernen, aber sie würde keine an-
deren finden, die mehr geneigt wären, sich ihren Befehlen zu fügen.
Aber abgesehen von diesen Schwierigkeiten würde die deutsche Re-
gierung, wenn sie Anordnungen dieser Art geben würde, einen solchen
Sturm der Entrüstung entfachen, daß sie sich sowohl gegenüber
dem Land, wie dem Parlament und den Reichswehrtruppen in einer
äußerst schwierigen Lage befinden würde, deren Folgen im einzelnen
nicht näher beschrieben zu werden brauchen. Obwohl es dessen kaum
mehr bedurfte, ist die Aufmerksamkeit der Regierung vor einigen Tagen
auf die außerordentliche Schwierigkeit dieser Lage durch eine Mitteilung
des Vorsitzenden der Aentrumspartei gelenkt worden. Der Bericht-
erstatter der Zentrumspariei hat am 23. Oktober in öffentlicher Sitzung
erklärt, daß die Mitglieder der Kommission davon überzeugt sind, daß
die Auslieferung von deutschen Volksgenossen die größte nGefah-
ren für das ganze politische Leben, ja sogar für die politische
Existenz Deutschlands nach sich ziehen würde. Die gegenwär-
tige Regierung sieht keinen Ausweg aus dieser Lage. Aber sie
muß es als sicher betrachten, daß durch das Verlangen der Auslieferung
alle Bemühungen um den Frieden auf dos schwerste gefährdet wurden,
in dem Augenblick, wo der Friede sich nach unendlichen Schwierigkeiten
zu verwirklichen scheint. „ ,
Die deutsche Regierung ist sich dessen bewußt, daß sie von den alli-
ierten und assoziierten Mächten nicht verlangen kann, ohne weiteres auf
die Rechte, welche sich aus den Artikeln 228 bis 230 ergeben, zu verzich-
ten. Sie weiß, daß ein vollkommener Verzicht dieser Artikel mit Rück-
sicht auf die öffentliche Meinung in den alliierten und assoziierten Lan-
dern kaum möglich ist. Sie wollen den alliierten und assoziienen Regie-
rungen auch nicht einen fcrmellen und bestimmten Vorschlag einer ander-
weitigen Regelung machen.

Die „Heldentat" -es Herrn v. Lerner.
Der „Vorwärts" schreibt:
Die deutsche Regierung kann einen Versuch zur Erfüllung dieses
Vertragspunktes nicht unternehmen, ohne den schwersten inneren
Kampfzu entfesseln, einen solchen Kamps kann man aber nicht führen,
wenn einem nicht die eigene Üeberzeugung und die Mehrheit des Voltes
zur Seite steht. An dieser Üeberzeugung fehlt es, denn niemand in
Deutschland hält die Forderung der Gegner, die Beschuldigten durch ihre
eigenen Gerichte aburteilen zu lassen, für gerecht. Wollte die deutsche Re-
gierung den Versuch machen, der Forderung der Entente nachzukommen,
so würde sie nicht wie ein mit eigenem Willen begabtes Wesen, sondern
nur als ein von fremdem Willen in Bewegung gesetzter Automat han-
deln, während der Widerstand, der sich ihr entgegenstellt, von den stärk-
sten Impulsen der Leidenschaft beseelt ist.
Das Charakterbild der Beschuldigten schwankt in der Zeitgeschichte,
von der Parteien Gunst und Haß entstellt. Wir können die Auffassung,
die aus ihnen Helden und Märtyrer machen will, gar nicht entschieden
genug ablehnen, sie haben nicht nur, wenn die gegen sie erhobenen Be-
schuldigungen auf Tatsachen beruhen, Taten begangen, denen sich das
deutsche Volk schämen muß, sondern sie haben durch diese Taten auch
die furchtborschwere Lage verschuldet, in die das deutsche
Volk heute geraten ist. Sympathie für die Beschuldigten kann also als
Beweggrung für die Haltung der Regierung und der Masse des Volkes
nicht in Betracht kommen.
Aber auch von jenen, die den Beschuldigten mit stärkster Abneigung
gegenüberstehen, wird die Auseinandersetzung mit ihnen als eine innere
Angelegenheit empfunden. Dieses Empfinden kam am stärksten in einem
Organ der alleräußersten Linken zum Ausdruck, in dem gesagt wurde, die
Beschuldigten verdienten, nicht an fremde, sondern an die eigenen La-
ternen gehängt zu werden. Eine bolschewistische Regierung etwa vom
Schlage der vergangenen Münchener würde wahrscheinlich gegen die Be-
schuldigten und viele andere wahllos mit blutiger Schärfe vorgehen, aber
auch sie würde sich kaum dazu bereit finden lassen, jene Leute einer frem-
den Gerichtsbarkeit auszuliefern. Die Entente würde daher zu ihrem
Ziel auch dann nicht gelangen, wenn in Deutschland der Bolschewismus
siegte, ein Ergebnis, das herbeizuführen scheinbar die Absicht gewisser
Lntentepolitiker ist.
Diese Tatsachen sprechen eine so deutliche Sprache, daß man hoffen
kann, im Lager der Alliierten werde alsbald eine ruhigere Ueber-
legung Platz greifen. In Deutschland hat man nicht die geringste Lust,
eine Katastrvphenpolitik zu treiben, der Bedarf daran ist auf Jahrzehnte
hinaus gedeckt. Katastrophenpvlitik aber treiben diejenigen, die, auf ihren
Schein bestehend, Forderung«: stellen, ohne die Folgen zu bebenken, die
jeder Versuch ihrer Erfüllung mit sich bringen müßte. Es ist zu hoffen,
daß man im französischen und im englischen Volk, wo die Erkenntnis am
allernotwendigsten ist, diesen Sachverhalt verstehen und auf ihn Rücksicht
nehmen wird.
Auch die „Franks. Zeitung" ist sich der furchtbar kriti-
schen Lage bewußt, die vor allem darin besteht, daß keine deutsche
Regierung die Macht haben wird, die auf der Liste Stehenden
zwangsweise der Entente auszuliefern.
Wie dem auch sei, die deutsche Regierung und das deutsche Volk
haben kein Mittel unversucht zu lassen, das eine Durchführung des Ver-
trags ermöglichen kann. Das einzige Mittel wird aber darin bestehen
müssen, daß die Entente nicht auf der absoluten Verwirklichung ihres Ge-
waltaktes besteht. Di« tiefe Bewegung, die jetzt durch alle Kreise des
deutschen Volkes geht, kann auch jenseits der Grenzen nicht mehr mißver-
standen werden. Das deutsche Volk hat das unauslöschliche Empfinden,
daß ihm eine moralische Vergewaltigung angetan werden soll, die es
niemals vergessen könnte. Der Friedensvertrag wird heute schon in allen
Punkten, in denen die Ausführung sachlich möglich ist, in der Abtretung
deutscher Gebiete, mit tiefem Schmerz, aber loyal vorbereitet. Ein Zwei-
fel an dem guten Willen ist nicht möglich. Aber es gibt Dinge, vor de-
nen auch die stärkste Regierung machtlos ist. Es ist an der Entente, die
demokratische Regierung Deutschlands, die sie sich selbst gewünscht hat,
um einen vertrauenswürdigen Partner für die Unterzeichnung des Frie-
dens zu haben, vor den äußersten Gefahren zu bewahren, die jetzt im An-
zuge sind. Die Zeit ist vorüber, wo man ein Volk willkürlich vernichten
konnte. Heute zieht das ein« die anderen mit sich, wenn es in den Ab-
grund getrieben wird.
Ueber die „Heldentat" des Herrn v. Lersner schreibt die
Mannheimer „Volksstimm e":
Darum können auch wir nicht in den Iubelgesang einstimmen, den
einzelne Blätter und mit ihnen manche ihrer Leser für Herrn v. Lers-
ner anstimmen. Das, was dieser Herr sich am Dienstag geleistet hat, ist
— mit Verlaub zu sagen — keine Heldentat, sondern eine kindische
Hanswursterei, die ihm, der Geschäftsträger in Paris nicht gewor-
den ist, und darob wohl ein wenig verärgert sein wird, einen theatrali-
schen Abgang mit bengalischer Beleuchtung und alldeutschem Beifallsge-
llatjche verschaffen sollte und verschafft hat. Denn, wenn sein „Gewissen
es nicht vertrug, den Briefträger der Auslieferungsliste zu spielen, so
hätte er schon früher, spätestens am Samstag der Regierung davon Mit-
teilung machen und einen anderen für diese Aufgabe bestellen lassen kön-
nen. Statt dessen wartet« er bis Dienstag, um mit Emphase die Liste
Millerand zurückzusenden: Theater, verehrte Zeitgenossen, übelstes
Theater. Und dazu eines, das uns zu den bestehenden. Schwierigkeiten
noch eine neue bringt, nämlich wie die Tat von Scapa Flow: für die
Entente ist Herrn v. Lersners Tat nur ein beleidigender Affront, schon
ist sie zur Beratung zusammengetreten und das Weitere werden wir wohl
^Echem^,G"ene^ral-Anzeiger" freilich ist diese diplomatische
Eselei eine Ruhmestat: Bravo! ruft er ihm zu, umhimmelt ihn mit
einem „freudigen Widerhall", findet beglückt, daß es „noch Männer gibt
in Deutschland" und was sich an ähnlichen ...Kindereien sonst noch
finden läßt. Kinderei, aber zugleich auch nicht ungefährlich: nicht
weniger töricht und nicht weniger gefährlich als die seinerzeitige Verhim-
melung des Grafen Arco, der di« Tat Hirschfeld zur Folge hatte. Und
zudem eine Geste, di« außerhalb der deutschen Grenzen — in der Wett
draußen — in dem unendlichen Meer ihrer eigenen Lächerlichkeit rasch
ertrunken sein wird wie ein Kätzchen in! einem steinbeschwerten Sack: grad-
ab und kaum ein kurzes Wellengekräusel nach sich ziehend.
Solche Kinkerlitzchen sind wahrlich keine Politik in einer so ern-
sten und folgenschweren Sache: in der Auslieferungsfrage
kann es für uns so wenig eine Politik der bluffenden Gesten wie der dro-
henden Fäuste geben, sondern eine Politik der Ruhe und der Vernunft,
hie sich auch jetzt noch bemühen muß, die Entente zur Einsicht und Abkchr
von ihrem bisherigen Versolgungs-Paroxismus zu bringen und die
Welt zum Kampfe gegen diesen Wahnsinn aufzurufen. Nur wenn die
Regierung diese Politik bis zum A euß ersten versucht und trotz-
dem auch weiter auf Unverstand für unsere Lage stoßen wird, nur dann
wird sie, in dem Bewußtsein des römischen Rechtsgrundsahes: Ultra posse
nemo obligatur. (Ueber sein Können hinaus kann niemand verpflichtet
werden) ruhigen Gewissens abwarten können, was weiter aus diesem
 
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