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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

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Heft 20
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Friedländer, Max J.: Meister Quentins Persönlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0606

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aber ist der Leib ein dünnwandiges, durchsichtiges Gefäß, das in Tränen überfließt,
sich im Spalt des Mundes öffnet. Sehnsucht, Schmerz, Zuneigung, Mitleid, zärtliche
Regung und Scham, alle Affekte, die einen sensitiven Organismus irgend bewegen
können, drängen, neigen, beugen den Körper. Die Gestalt ist nie im Gleichgewicht
als beharrende Masse, stets labil, im Übergange von einer Lage in die andere. Das
Körperliche, Organ tastender, witternder Sinne, entbehrt des stabilen Knochengerüstes.
Die Bewegung wird gemäßigt nicht nur durch rücksichtsvollen Takt, würdige Be-
herrschtheit, sondern auch durch beschränkte Richtung. Die Menschen wallen, langen,
greifen fast ausschließlich mit der Strömung der Bildebene. Die Komposition ist, von
wenigen Ausnahmen abgesehen, eingespannt in die Relief form, wirkt gemessen, ge-
faßt und errechnet. Die Figurengruppen stehen vorn, uns nahe, in einer Schicht. In
einseitiger Teilnahme am Psychologischen und Physiognomischen wird für gleich-
mäßig helles Tageslicht gesorgt.
Massys komponiert wie ein Tapisseriezeichner und führt selbst naturgroße Gestalten
wie ein Miniaturmaler aus. Das gewebte Bild steht unter eigenen Stilgesetzen, unter
anderen Stilgesetzen wie das gemalte. Komposition und Erfindung werden geleitet
und gerichtet durch die besondere Bestimmung des Wandbehangs, sowie durch die
Eigenart der Technik. Allerdings entfaltete sich die niederländische Tapisserie im
15. Jahrhundert keineswegs autonom und in fest geschlossenen Grenzen, vielmehr
drangen die Tafelmaler in das Nachbargebiet ein, indem sie Kartons oder Entwürfe zu
Kartons lieferten. Die Gattungen kamen miteinander in Berührung. Die Tapisserie
ist die eigentliche Monumentalkunst der Niederlande. Weite Flächen, großer Figuren-
maßstab waren von vornherein dem Verfahren eigen. Ein gehöriger Abstand des Be-
trachters vom Bild wurde gefordert, wenn das Gewebe Bildillusion ausüben sollte. Auf
der anderen Seite war die Tafelmalerei ihrem Ursprung und ihrer nationalen Eigen-
art nach Kleinkunst.
Quentin Massys wird gemeinhin als ein Maler großen Stils betrachtet. Ein Vorurteil
stellte sich dem Verständnis und der Anerkennung seiner kleinfigurigen Werke ent-
gegen. Offenbar strebte er nach Monumentalität. Seine Malweise wurzelt aber in der
Miniaturmalerei, die Ausführung im kleinen Format bleibt ihm bequem und natür-
lich. Er verkleinert glücklich das inhaltreiche Nahgesicht, während der geborene
Monumentalmaler das leere Ferngesicht vergrößert. Die niederländische Kunst konnte
Größe in der Tapisserie lernen, wie die italienische Malerei im Fresko. Wenn wir vor
den großen Bildtafeln Quentins an Brüsseler Gewebe denken, die um ]510 geschaffen
wurden, wenn wir andererseits vor solchen Tapisserien an Massys erinnert werden, an
seine Erfindung sein Schönheitsideal, seine Bewegungsmotive, so gibt es dafür zwei
Erklärungen, die beide -—wenn nicht richtig— so fruchtbar sind. Bei der ehrgeizigen
und ein wenig unnatürlichen Anstrengung des Tafelmalers, große Flächen zu füllen,
tauchten Bildgewebe in seiner Erinnerung auf. Die Maler, die zu seiner Zeit als Karton-
Zeichner für Tapisserie tätig waren, mögen an dem Vorbild, das Quentins Kunst bot,
nicht ungerührt vorbeigegangen sein. Die Helligkeit der reifen Werke beruht auf der
Lust an dem sinnlichen Glanze positiver, reiner und gewählter Farben, sowie auf der
Sucht, alles deutlich zu zeigen und die Formenkenntnis zur Schau zu stellen. Dem-
zufolge wirken die Tafeln primitiv mit durchsichtiger Höhenluft und geringer Raum-
tiefe, obwohl der Meister mit der Linien- und Luftperspektive vertraut ist. Die Farben
sind in weiten Flächen entscheidende Werte als Teile der Bildfläche, erlesen, zwischen-
stufig, an sich ausdrucksvoll, wie seltene Edelsteine, schillernd, opalisierend.
Die unvergleichlich feinfühlige, scharfsichtige, die zartesten Bewegungen der Form,
namentlich im Fleisch, aufspürende Zeichnung, der unendlich subtile Farbenauftrag,
der jeder Textur, jeder Materie gerecht wird, im besonderen das Fleisch, aber auch

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