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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

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Heft 22
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Rosenberg-Gutmann, Anny; Chardin, Jean Baptiste Siméon [Gefeierte Pers.]: J.B.S. Chardin (1699-1779)
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https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0675

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J. B. S. Chardin Das Hausmütterchen
Sammlung H. de Rothschild, Paris
so manche seiner schönen Arbeiten, — die Bilder der Wiener Lichtenstein-Galerie und die
prachtvollen Zeichnungen der Albertina, — so ist doch eine Fülle seiner besten W erke hier
ausgestellt, von denen viele aus dem Ausland kamen, den meisten Franzosen unbekannt.
Interessant ist unter den Bildern eine frühe Arbeit Chardins, das Stillehen mit dem
Fleischstück, signiert und datiert 1727, also ein Jahr vor seiner Aufnahme in die Aka-
demie gemalt. Noch ist die strenge Einfachheit in Form und Farbe nicht gefunden,—
es ist beinahe impressionistisch in seiner unruhigen Fleckigkeit.
Und dann die Fülle der Stilleben, die er bis an sein Lebensende malte, von deren
strenger Geschlossenheit eine zauberhafte Wirkung ansstrahlt. Im Gleichmaß des Ge-
tönten immer noch Farbigkeit, zartes Blau und Grün einer Frucht vor der braunen
Hintergrundswand, weiße Pastelltöne eines Stoffes auf ambrafarbenem Holzgrund.
Aus Birnen und Trauben, Flasche und Glas und ihren wohlverteilten Lichtern und
Schatten entstehen Dichtungen: Poesie der bürgerlichen Welt.
Immer wieder ist man versucht, ihn mit den Niederländern zu vergleichen. Aber zu
viel Gemeinschaftliches hier zu finden, ihn gar als Epigonen holländischer Genrekunst
zu betrachten, wie dies in der Kunstkritik schon öfter geschehen ist, kann leicht zu
einem Fehlschluß führen. Denn er war trotz des ungeheuren Kontrastes zur Kunst
seiner Epoche durchaus kein Outsider, sondern das Ergebnis seiner Zeit wie Watteau
oder Lancret oder Boucher. Nur war er nicht der Maler ihrer Oberfläche, sondern
ihrer Unterströmung.
Die Zeit der Regence und als weitere Entwicklung die darauffolgende Epoche Louis X\ .
trägt schon den Keim der großen, viel späteren Umwälzung in sich. Elemente, die in
ihrer Reaktion gegen die absolutistische Machtsphäre beinahe als bürgerlich bezeichnet
werden können, ein erstarkendes Volkstum, das sich schon deutlich von der leicht-
lebigen dekadenten Gesellschaft unterscheidet. Dieses Bürgertum hat in Chardin seinen
Gestalter gefunden, ihre enge und doch starke und werdende Welt hat er gemalt.
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