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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

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Sonderheft Kunstliteratur
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Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0787

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Architektur

nommen: ca. ii5o die westliche Verlängerung der
Krypta des ioi5 begonnenen Baus; — 1176, späte-
stens 1188 (bzw. 1190) Apsis, Vierung und An-
dreaskapelle. (Alle drei gleichzeitig.) — Ca. 1200
der nördliche, ca. 1210—3o (35) der südliche Quer-
hausflügel. (Bis ca. 1225 unter der Leitung des
älteren Meisters; der jüngere ist seit 1220 als Bild-
hauer tätig.) -—- Ca. 1220 die Johannes-Kapelle.
— 1235—5o die zwei östlichen Langhausjoche, d.
h. also gleichzeitig mit Marburg (Anfang 1235 be-
gonnen) und Trier (wahrscheinlich 1235 begon-
nen)!! — Ca. i2Öo—75 das übrige Langhaus.
Dementsprechend kommt Weigert auch bei der
zeitlichen Festlegung der Plastik zu frühen Daten.
Er setzt den Marientod, Ecclesia, Synagoge und den
Gerichtspfeiler, welche Arbeiten er dem Haupt-
meister zuschreibt, ins 3. Jahrzehnt des i3. Jahr-
hunderts. Die Marienkrönung gibt er einem Mei-
ster zweiten Grades, der unter dem Einfluß des
Hauptmeisters steht und der vielleicht auch etwas
später die Köpfe am Frauenhaus gemacht hat, die
höchstwahrscheinlich zu dem ehemaligen Gewände-
aposteln gehören. Sie repräsentieren einen neuen
Stil, der an Stelle der strömenden Bewegtheit eine
bewegungslose Steinschwere setzt und der wie eine
Vorstufe zum Stil der Lettner-Apostel wirkt. Der
Tafel 33 abgebildete Apostelkopf scheint mir übri-
gens sich viel enger an den Lucas des Gerichts-
pfeilers zu halten, als an die Köpfe des Marien-
todes, und es scheint mir etwas gewagt, als Ersatz
für die verlorenen Rümpfe die Figuren von Petrus
und Paulus vom Nordportal der Klosterkirche in
Neuweiler heranzuziehen. Denn weder ist die Ähn-
lichkeit des dortigen Paulus mit dem des Marien-
todes überzeugend, noch die Vergleichsmöglichkei-
ten des Gewandstils mit dem der Apostel auf dem
Brunnschen Stich von 1617 gegeben. Sicher ist,
daß in den erhaltenen Köpfen im Frauenhaus sich
ein Stilwandel gegenüber den Arbeiten des Eccle-
siameisters bemerkbar macht; diesen Stilwandel
aber dem zweitklassigen Meister der Marienkrö-
nung zuzutrauen, scheint mir bedenklich. Was die
Beziehungen des Ecclesiameisters zu Chartres an-
geht, so wird einleuchtend gezeigt, wie erst bei
ihm der frühgotische Chartreser Stil seine höchste
Blüte entfaltet. Die Möglichkeit, daß die Antike
für ihn direktes Vorbild gewesen sein könnte, wird
abgelehnt angesichts der ununterbrochenen Tradi-
tion der französischen Frühgotik, aus der sein Stil
erwächst. Die ca. i25o entstandenen Lettner-Figu-
ren und die Gewändestatuen der Westfront, deren
wesentlichen Teil der Verfasser aus plausiblen
Gründen in die Jahre 1275 und ca. 1290 setzt,
leiten von den organischen Bewegungsformen der
Frühgotik zu den abstrakten der Hochgotik über.
Es sei gestattet, zum Schluß auf eine allgemeine
Frage einzugehen, nämlich die von Weigert ver-
suchte Definition der gotischen Raumvorstellung.
Weigert sagt beim Marientod: »Aus der Relief-
fläche wird ein Raum, in dem die Figuren nicht

mehr nebeneinander geordnet, sondern voreinan-
der geschichtet sind.« »Trotzdem ist die Komposi-
tion noch durchaus von der Architektur bestimmt
und aus ihr entwickelt.« Das zweite scheint mir das
erste auszuschließen. Wenn — was wirklich der
Fall ist — die plastische Komposition des Reliefs
noch in deutlichem Zusammenhang mit der Ge-
samtmasse des Baus steht, so ist sie eben noch nicht
in einen besonderen Raum gesetzt und als dessen
Teil behandelt. Es handelt sich bei dem halbdunk-
len Reliefgrund vielmehr um das typische Zwi-
schengebilde von haptischer Fläche und kubischer
Raumbegrenzung, dem in der Malerei der Gold-
grund entspricht. Es handelt sich um die Unbe-
grenztheitsvorstellung, die darzustellen die eigene
Aufgabe der Gotik war, und der Vorsprung des
Straßburger Marientodes vor seinem Chartreser
Vorbild beruht darauf, daß bei ihm diese Vor-
stellung eindringlicher zu Worte kommt. Ähn-
lich liegt das Verhältnis zwischen der Ecclesia
und den Gewändefiguren der Westfront. Von
einer »Nische« möchte ich bei diesen tunlichst nicht
sprechen, denn gerade von der raumgestaltenden,
klaren Begrenztheit, die das Wort in der Vorstel-
lung erzeugt, ist hier nichts vorhanden. Vielmehr
handelt es sich auch hier um die Andeutung jenes
— hinsichtlich seiner Begrenzung unklaren — Hin-
tergrundes. Keine gotische Figur, auch noch nicht
der Stefanus vom Laurentiusportal—ja selbst noch
nicht einmal Grassers Maruskatänzer -— sind ohne
diesen Hintergrund zu denken, der die Illusion
des Unbegrenzten gibt. Ihnen allen ist gemeinsam
einerseits jene Bindung mit der Masse der Archi-
tektur (zu der auch der Altar zu rechnen ist), an-
dererseits das von Generation zu Generation wach-
sende Bedürfnis, möglichst vielseitig in das Unbe-
grenzte vorzustoßen. Ganz reißt die Nabelschnur
zur Gesamtmasse der Architektur in der ganzen
Gotik nicht ab. Sie wird erst in dem Moment zer-
schnitten, wo der Freiraum als darstellbares, ein-
heitliches und zugleich begrenzbares Gebilde und
die Masse als dessen Teil in die menschliche Vor-
stellung eingeführt werden, nämlich in der italie-
nischen Renaissance. In der Gotik aber beruht die
Einheit des Reliefs auf der Kontinuität, die in-
haltlich wie formal die Masse in sich selbst be-
wahrt, nicht auf der Kontinuität eines Einheits-
raumes, den die Oberflächen der Massen, die Teile
von ihm sind, begrenzend aufbauen. So scheint es
mir für die Klarheit unserer Begriffsbildung ge-
fährlich, wenn man bei der Gotik und bei der
Renaissance ohne Unterschied von einer Gestal-
tung des Raumes spricht. Das gilt selbstverständ-
lich auch von deren Architektur. So »bildet« der
Engelpfeiler bzw. die große Säule in den Quer-
hausflügeln keine »Raumgruppen«, vielmehr wird
ein spätromanisches Raumfluidum, das an sich
schon wenig Flächen hat, die der Richtung seines
Fließens Halt geben, in typisch-gotischem Sinne
zersplittert. Es geschieht das allerdings hier auf
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