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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 27.1916

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Clemen, Paul: Der Zustand der Kunstdenkmäler auf dem östlichen Kriegsschauplatz
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https://doi.org/10.11588/diglit.6189#0070

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Der Zustand der Kunstdenkmäler auf dem östlichen Kriegsschauplatz

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auf die Besitzungen von Polen erstrecken. Die ganze
Operation erweist sich als ein vorbedachter Ver-
nichtungskrieg gegen den polnischen Großgrundbesitz,
genau so wie bei dem Rückzug der Russen aus
Oalizien. Die großen polnischen Geschlechter sollten
hier möglichst schwer getroffen nnd vernichtet werden.

In noch höherem Maße als Warschau ist für die
Kunst des Barock aber Wilna eine Fundgrube. Die
Stadt, die zwischen anmutigen umbuschten Hügeln
an der Einmündung der Wileika in die Wilija liegt,
ist eine der schönsten und malerischsten Städte des
Ostens überhaupt, im phantastischen Reiz der Sil-
houette vielleicht mit Prag, in manchem selbst mit
Salzburg vergleichbar. An Zahl der enggedrängten
Kirchen und Klöster könnten nur spanische Städte
mit ihr den Wettbewerb aufnehmen. Die ganze Alt-
stadt wird beherrscht durch ein Heer von Spät-
renaissance- und Barockkirchen, neben denen die
wenigen spätgotischen Kirchenbauten, die schon ge-
nannte Annenkirche, die Johanneskirche und die vom
König Kasimir begonnene Kirche der Heiligen Bern-
hard und Franziskus, fast verschwinden. Alle diese
Kirchen sind voll von einer überladenen Ausstattung
des 17. und 18. Jahrhunderts. Das späte Barock, das
schon im eigentlich polnischen Gebiet eine stark
malerische Färbung erhalten hatte, ist hier zu einer
wilden phantastischen Pracht gesteigert. Zweigeschossig
steigen die meisten Altarbauten empor, im Chor-
umgang dicht gedrängt, so daß sie hier wie die
Kulissen eines Theaters erscheinen. Dabei sind alle
diese Kirchen im Inneren unverändert, alles ein wenig
verwahrlost, und auch über dem Inneren liegt derselbe
Schleier gelangweilter Trauer, der die ganze Stadt
einzuhüllen scheint. Zum Glück ist die Stadt völlig
unversehrt geblieben. Die Russen haben nur hier
wie auch sonst in ganz Polen, Litauen und in Kur-
land die Glocken sämtlich entführt und sich nicht
gescheut, zu ihrer Entfernung barbarisch die Turm-
wände zu durchbrechen. Aus Wilna ist auch das
Bronzedenkmal der Kaiserin Katharina auf dem
Kathedralplatz, eines der Hauptwerke von Antokolsky,
ebenso auf dem Schloßplatz das Denkmal Murawjews
von Grjasnow und sogar die Bronzebüste Puschkins
abgeschleppt. In der Nachbarschaft hat der Krieg
stärker getobt. In dem in wunderbarer Umgebung
auf der Spitze einer Halbinsel mitten in einem Seen-
gebiet gelegenen Städtchen Troki ist die große zwei-
türmige Barockkirche von Westen her stark durch
Granaten verletzt, eine große Bresche öffnet sich in
der Front, das Dach ist von Schrapnells siebartig
durchlöchert. Die neue russische Kirche ist in ihrem
Westbau so stark zerstört, daß die Laterne des vorderen
Kuppelturmes fast frei in der Luft zu schweben scheint
und eine Wiederherstellung kaum möglich ist. Unter
den Barockbauten dieses nördlichen Gebietes hat noch
die Kirche zu Wigry schwer zu leiden gehabt. In dem
gleichnamigen See östlich von Suwalki baut sich in
unvergleichlich schöner Lage, deren Reiz durch die
feierliche Einsamkeit noch gesteigert wird, auf einem
kleinen Hügel und auf Unterbauten, die auf eine ältere
befestigte Anlage schließen lassen, der barocke ganz

italienische Bau der Kirche auf, die während des lange
andauernden Stellungkrieges von beiden Seiten schwer
zu leiden gehabt hat. Der eine Flankierungsturm ist
fast zusammengebrochen. Im Mittelschiff und der
einen nördlichen Seitenkuppel ist das Dach durch-
geschlagen, Granaten haben im Inneren eine ziemliche
Verwüstung angerichtet, doch ist der Hochchor noch
wohl erhalten geblieben, während von den Seiten-
altären das, was am meisten gefährdet ist, in den
Chor transportiert werden soll. Die Bischofskirche
dieses Sprengeis in dem weit von allen Hauptverkehrs-
wegen gelegenen einsamen Sainy, ein zweitürmiger
Barockbau von dem üblichen Wilnaer Typus, ist un-
berührt geblieben, ebenso wie in Grodno der originelle
Bau des Domes und der Bernhardinerkirche, der erste
durch riesige Altaraufbauten ausgezeichnet: der zwei-
stöckige Hochaltar weist nicht weniger als 18 Säulen auf.

Von den großen Schlössern im südlichen Litauen
ist vor allem das Schloß Czerwocnydwör (Krasnydwör)
bei Kowno, im Besitz des Grafen Bolo Tyschkewicz,
am Ufer des Njemen, durch die Russen schwer be-
schädigt. Das Herrenhaus selber ist erhalten geblieben,
nur die Ausstattung durcheinandergeworfen, die Oran-
gerie verbrannt, vor allem aber ist die zweitürmige
Kirche, in der sich hinter dem Hochaltar die gräfliche
Grabkapelle mit sehr reichen klassizistischen Marmor-
skulpturen erhob, völlig gesprengt, so daß nur noch
Trümmerhaufen von kleinen Brocken die Stätte be-
zeichnen. Die übrigen drei großen Schlösser der
Grafen Tyschkewicz in der Nähe von Wilna sind
erhalten geblieben, Landwarowo, ein neues gotisches
Palais, eine Schöpfung des Architekten Grafen Rostwo-
rowski, ebenso das Schloß Waka. In dem schönen
Louis XVI.- Bau Sadrocze, der sich Troki gegenüber
mit seiner Tempelfront in dem See spiegelt, ist die
Front und das Dach durch Schrapnells beschädigt,
das Innere wenig sanft behandelt. Schloß Werki
nördlich von Wilna, das einst als der Besitz des
Fürsten von Hohenlohe-Schillingsfürst viel genannt
ward, jetzt sich im Besitz eines Herrn von Spinek in
Grodno befindet, ist mit seinen Kavalierhäusern und
Hofhäusern nur durch die wiederholte Einquartierung
im Inneren mitgenommen, aber der Bau ist erhalten.
Aus dem Schloß Abramowsk bei Troki haben die
Russen die ganze Ausstattung fortgeschleppt. In dem
nördlichen Teil von Litauen, dem alten Samogitien,
um das der Orden 150 Jahre lang gekämpft hat, das
er erst am Ende des 14. Jahrhunderts sich für eine
kurze Herrschaft unterwerfen konnte, sind die beiden
merkwürdigen Kirchenbauten von Telschi und Schawli,
die hier den Kirchentypus bestimmen, sehr seltsame
Abarten der ostpreußischen Backsteinkirche mit einer
hoch durch den Innenraum, auch durch den Chor
durchgeführten Empore, in der in Telschi auch ein
zweiter Altar errichtet ist. Während der ganze Ort
Schawli am 30. April von den zurückgehenden Russen
bis auf wenige Häusergruppen niedergebrannt ist, ist
die hochgelegene Kirche erhalten geblieben und von
uns bei der zweimaligen Beschießung geschont worden.
Das durch Schrapnells beschädigte Dach ist bereits
wieder hergestellt.
 
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