KUNSTCHRONIK
Neue Folge. XXVII. Jahrgang 1915/1916 Nr. 16. 14. Januar 1916
Hie Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 6 Mark.
Man abonniert bei jeder Buchhandlung, beim Verlage oder bei der Post. Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden,
leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann, Leipzig, Hospitalstr. U a.
Abonnenten der Zeitschrift für bildende Kunst erhalten Kunstchronik und Kunstmarkt kostenfrei. Anzeigen 30 PF. die Petitzeile; Vorzugsplätze teurer.
NEUE ZIELE DER KUNSTGESCHICHTS-
SCHREIBUNG
zu heinrich wölfflins neuem buch
»kunstgeschichtliche grundbegriffe«
Von Oscar Hagen
Alle Kunst zielt auf Ausdruck. Die eindeutige
Interpretation seines wesentlichen Inhalts wird deshalb
immer eine wichtige Aufgabe der beschreibenden
Kunstgeschichte bleiben. Je gewissenhafter aber und
je dringlicher sich die Kunstwissenschaft um die Ver-
wirklichung dieses Zieles bemüht, um so unerbittlicher
stellt sich ihr die Erkenntnis entgegen, daß eine ab-
solute Deutung der Inhalte früherer Kunstübung von
unserem — notwendig subjektiven — Standpunkt aus,
sich — wachsend mit dem Maß ihrer zeitlichen Ferne
— immer schwieriger gestalten, ja schließlich fast
illusorisch werden muß. Kunstwerke als Quellen
historischer Betrachtung unterscheiden sich ja dadurch
sehr wesentlich von anderen historischen Tatsachen,
daß sie fortexistieren und ihre lebendige Wirkung,
wie auf die Zeit ihrer Entstehung, so auch auf die
von heute und morgen ausüben. Werke vergangener
Jahrhunderte »leben« neben solchen von heute und
werden neben denen von morgen nicht aufhören zu
sein. Die Versuchung hat unter solchen Umständen
immer nahegelegen, sie alle als den natürlichen Aus-
fluß eines zu allen Zeiten gleichermaßen möglichen
Ausdruckswillens zu interpretieren, das Verhältnis zu
den in der jeweils modernen Kunst auftauchenden
Werten also auch bestimmend sein zu lassen für das
Verhältnis zum Vergangenen und deshalb das sub-
jektive Urteil von heute auch als bindendes für die
Vergangenheit zu erachten. Dabei braucht man gar
nicht an eine dogmatisch-ästhetische Bewertung zu
denken. Ganz dieselben Hemmungen zeigen sich bei
dem Versuch, die bloße »Sprache« des Kunstwerks,
die Ausdrucksmittel des Künstlers, zu deuten.
Man wird zwar einem falschen Schluß weniger
erliegen, wo es sich um rein sachliche Momente der
Darstellung handelt, da" die Heranziehung literarischer
Quellen und anderer sicherer Hilfsmittel hierfür die
geeignete Handhabe zur Korrektur unserer Anschauung
bietet. Aber jedes Kunstwerk hat doch auch seine
dekorative Physiognomie, mit deren Hilfe es sich
ganz wesentlich ausspricht, und diese wandelt sich
gesetzmäßig mit den Zeiten. Es gibt Sehgewöh-
nungen der Epochen, in deren Grenzen die Aus-
drucksmittel nicht nur gebunden bleiben, aus deren
besonderem Verhältnis zum Weltbild sie vielmehr
überhaupt erst ihren Sinn erhalten. Aus dem gänzlich
veränderten Verhalten gegenüber der Sichtbarkeit kann
heute als Ausdruck ruhiger Harmonie empfunden
werden, was früher als lebhafte Dissonanz galt. Läßt
man diese verschiedene Art der Sehformen und ihre
grundlegende Bedeutung für die historische Betrach-
tung außer Acht, so muß notwendig jedes Urteil über
den Ausdruck, in der historisch gewordenen Kunst
wenigstens, auf schwankendem Boden stehen. Es
wird einseitig subjektiv werden; morgen schon, wenn
eine anders gerichtete, moderne Kunst andere Möglich-
keiten zeigt, werden die von ihr aus orientierten, neuen
Urteile die von gestern umstoßen, und nichts von dem
heute gesagten wird mehr Bestand haben. Nichts ist
in diesem Sinne lehrreicher als die Zusammenstellung
der Deutungen eines für uns scheinbar ganz unzwei-
deutigen Werkes, wie etwa des David des Michelangelo,
aus der Kunstliteratur der letzten 50 Jahre.
Wie nun solche Hemmungen, die einer objek-
tiven Interpretation immer im Wege gestanden haben,
beseitigen?
Daß die Kunst ihre eigene Sprache und deshalb
auch ihre eigene Grammatik und Syntax hat, ist längst
bekannt. Die Denkformen der Sprache entsprechen
den Sehformen der Kunst, und daß diese wie jene
etwas Wandelbares sind und sein müssen, hätte man
aus dem Axiom ableiten können, daß alles Lebendige
einer beständigen Wandlung unterliegt. Es ist nun
aber merkwürdig, daß die Kunstgeschichtswissenschaft
diesem Phänomen stets nur nebenher einige Aufmerk-
samkeit zugewandt hat, obwohl dessen grundlegende
Bedeutung an Nachbarwissenschaften hätte beobachtet
werden können. Die Philologie ist längst die Wege
gegangen, die die Kunstgeschichte hätte beschreiten
müssen, ehe sie zu den höheren Schichten der Inter-
pretation des Ausdrucks aufsteigen durfte. Sie weiß,
daß die Ausdrucksweise und die Ausdrucksmöglich-
keiten des Mittelalters bedingt sind durch besondere
Denkformen der Zeit, und daß ein Satz aus einer
Schrift von damals ganz anders verstanden werden
muß, als einer aus der Zeit der Romantik, der vielleicht
dem Wortlaut nach ganz identisch mit jenem ist. Auch
die Musikgeschichte, obzwar ungleich jünger als die
Kunstgeschichte, weiß, daß ein harmoniefremder Ton
innerhalb der gebundenen Harmonik Mozarts als ge-
quälter Aufschrei erlebt werden muß, während deren
eine ganze Reihe, etwa bei Reger, aus dem Stimmungs-
bereich relativer Ruhe nicht herauszufallen braucht,
weil es sich eben dort um eine exzeptionelle Durch-
brechung der geschlossenen Ordnung handelt, hier
dagegen die allseitig durchstoßene Form etwas so
Gewöhnliches ist, daß der umgekehrte Fall eintreten
und die geordnete Harmonie als etwas Außerordent-
liches empfunden werden kann. Wenn auch in der
Musikgeschichte diese Dinge noch nie systematisch
auf ihre grundlegende Bedeutung hin untersucht worden
Neue Folge. XXVII. Jahrgang 1915/1916 Nr. 16. 14. Januar 1916
Hie Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 6 Mark.
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Abonnenten der Zeitschrift für bildende Kunst erhalten Kunstchronik und Kunstmarkt kostenfrei. Anzeigen 30 PF. die Petitzeile; Vorzugsplätze teurer.
NEUE ZIELE DER KUNSTGESCHICHTS-
SCHREIBUNG
zu heinrich wölfflins neuem buch
»kunstgeschichtliche grundbegriffe«
Von Oscar Hagen
Alle Kunst zielt auf Ausdruck. Die eindeutige
Interpretation seines wesentlichen Inhalts wird deshalb
immer eine wichtige Aufgabe der beschreibenden
Kunstgeschichte bleiben. Je gewissenhafter aber und
je dringlicher sich die Kunstwissenschaft um die Ver-
wirklichung dieses Zieles bemüht, um so unerbittlicher
stellt sich ihr die Erkenntnis entgegen, daß eine ab-
solute Deutung der Inhalte früherer Kunstübung von
unserem — notwendig subjektiven — Standpunkt aus,
sich — wachsend mit dem Maß ihrer zeitlichen Ferne
— immer schwieriger gestalten, ja schließlich fast
illusorisch werden muß. Kunstwerke als Quellen
historischer Betrachtung unterscheiden sich ja dadurch
sehr wesentlich von anderen historischen Tatsachen,
daß sie fortexistieren und ihre lebendige Wirkung,
wie auf die Zeit ihrer Entstehung, so auch auf die
von heute und morgen ausüben. Werke vergangener
Jahrhunderte »leben« neben solchen von heute und
werden neben denen von morgen nicht aufhören zu
sein. Die Versuchung hat unter solchen Umständen
immer nahegelegen, sie alle als den natürlichen Aus-
fluß eines zu allen Zeiten gleichermaßen möglichen
Ausdruckswillens zu interpretieren, das Verhältnis zu
den in der jeweils modernen Kunst auftauchenden
Werten also auch bestimmend sein zu lassen für das
Verhältnis zum Vergangenen und deshalb das sub-
jektive Urteil von heute auch als bindendes für die
Vergangenheit zu erachten. Dabei braucht man gar
nicht an eine dogmatisch-ästhetische Bewertung zu
denken. Ganz dieselben Hemmungen zeigen sich bei
dem Versuch, die bloße »Sprache« des Kunstwerks,
die Ausdrucksmittel des Künstlers, zu deuten.
Man wird zwar einem falschen Schluß weniger
erliegen, wo es sich um rein sachliche Momente der
Darstellung handelt, da" die Heranziehung literarischer
Quellen und anderer sicherer Hilfsmittel hierfür die
geeignete Handhabe zur Korrektur unserer Anschauung
bietet. Aber jedes Kunstwerk hat doch auch seine
dekorative Physiognomie, mit deren Hilfe es sich
ganz wesentlich ausspricht, und diese wandelt sich
gesetzmäßig mit den Zeiten. Es gibt Sehgewöh-
nungen der Epochen, in deren Grenzen die Aus-
drucksmittel nicht nur gebunden bleiben, aus deren
besonderem Verhältnis zum Weltbild sie vielmehr
überhaupt erst ihren Sinn erhalten. Aus dem gänzlich
veränderten Verhalten gegenüber der Sichtbarkeit kann
heute als Ausdruck ruhiger Harmonie empfunden
werden, was früher als lebhafte Dissonanz galt. Läßt
man diese verschiedene Art der Sehformen und ihre
grundlegende Bedeutung für die historische Betrach-
tung außer Acht, so muß notwendig jedes Urteil über
den Ausdruck, in der historisch gewordenen Kunst
wenigstens, auf schwankendem Boden stehen. Es
wird einseitig subjektiv werden; morgen schon, wenn
eine anders gerichtete, moderne Kunst andere Möglich-
keiten zeigt, werden die von ihr aus orientierten, neuen
Urteile die von gestern umstoßen, und nichts von dem
heute gesagten wird mehr Bestand haben. Nichts ist
in diesem Sinne lehrreicher als die Zusammenstellung
der Deutungen eines für uns scheinbar ganz unzwei-
deutigen Werkes, wie etwa des David des Michelangelo,
aus der Kunstliteratur der letzten 50 Jahre.
Wie nun solche Hemmungen, die einer objek-
tiven Interpretation immer im Wege gestanden haben,
beseitigen?
Daß die Kunst ihre eigene Sprache und deshalb
auch ihre eigene Grammatik und Syntax hat, ist längst
bekannt. Die Denkformen der Sprache entsprechen
den Sehformen der Kunst, und daß diese wie jene
etwas Wandelbares sind und sein müssen, hätte man
aus dem Axiom ableiten können, daß alles Lebendige
einer beständigen Wandlung unterliegt. Es ist nun
aber merkwürdig, daß die Kunstgeschichtswissenschaft
diesem Phänomen stets nur nebenher einige Aufmerk-
samkeit zugewandt hat, obwohl dessen grundlegende
Bedeutung an Nachbarwissenschaften hätte beobachtet
werden können. Die Philologie ist längst die Wege
gegangen, die die Kunstgeschichte hätte beschreiten
müssen, ehe sie zu den höheren Schichten der Inter-
pretation des Ausdrucks aufsteigen durfte. Sie weiß,
daß die Ausdrucksweise und die Ausdrucksmöglich-
keiten des Mittelalters bedingt sind durch besondere
Denkformen der Zeit, und daß ein Satz aus einer
Schrift von damals ganz anders verstanden werden
muß, als einer aus der Zeit der Romantik, der vielleicht
dem Wortlaut nach ganz identisch mit jenem ist. Auch
die Musikgeschichte, obzwar ungleich jünger als die
Kunstgeschichte, weiß, daß ein harmoniefremder Ton
innerhalb der gebundenen Harmonik Mozarts als ge-
quälter Aufschrei erlebt werden muß, während deren
eine ganze Reihe, etwa bei Reger, aus dem Stimmungs-
bereich relativer Ruhe nicht herauszufallen braucht,
weil es sich eben dort um eine exzeptionelle Durch-
brechung der geschlossenen Ordnung handelt, hier
dagegen die allseitig durchstoßene Form etwas so
Gewöhnliches ist, daß der umgekehrte Fall eintreten
und die geordnete Harmonie als etwas Außerordent-
liches empfunden werden kann. Wenn auch in der
Musikgeschichte diese Dinge noch nie systematisch
auf ihre grundlegende Bedeutung hin untersucht worden