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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 27.1916

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Hagen, Oscar: Neue Ziele der Kunstgeschichtsschreibung: zu Heinrich Wölfflins neuem Buch "Kunstgeschichtliche Grundbegriffe"
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https://doi.org/10.11588/diglit.6189#0084

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155

Neue Ziele der Kunstgeschichtsschreibung

156

sind, so dürften sie dort als Voraussetzungen doch
wesentlich bekannter sein als die verwandten Erschei-
nungen in dem Verlauf der Geschichte der bildenden
Künste, wo die Versuche, eine Basis der gewohnheits-
mäßigen Anschauungsformen der Epochen zu gewinnen,
meist in den ersten Ansätzen stecken geblieben sind.
Trotzdem erhellt schon aus den angeführten Ver-
gleichen mit anderen Wissenschaften, daß erst, wenn
ein Schema der Sehmöglichkeiten (die durchaus nicht
zu allen Zeiten die gleichen gewesen sind) für alle
Epochen gefunden ist, ein objektives Ins-Auge-Fassen
auch der Ausdrucksabsichten der Künstler möglich
sein wird.

Freilich, es bedarf einer außerordentlich strengen
Sonderung zwischen den an sich ausdruckslosen
Formen der Anschauung, die nur die Grenzen der
Ausdrucksmöglichkeiten umfassen, und der bereits mit
Ausdruckswillen durchsetzten Form, wenn man die
das Problem ausmachenden Begriffe rein in die Hand
bekommen will. Leider hat man dieser ersten wissen-
schaftlichen Forderung nur in den seltensten Fällen
und nur auf kleinen Gebieten bislang Rechnung ge-
tragen. Überall, wo man große Entwicklungsgänge
aufzeigen wollte, nahm man das Ganze als bereits
fertig gestalteten Ausdruckswillen und suchte auf dieser
unhaltbaren Grundlage nach den Gesetzen der Ent-
wicklung, als sei die Kunst a priori etwas, was sich
biologisch aus sich selbst könne erklären lassen. Wie
man dabei verfuhr, ist sattsam bekannt. Man trug
Gesetze in die nach einem vorgefaßten Prinzip ver-
knüpften (an sich ja starren) Tatsachen von außen
hinein, fand Analogien — die irgendwie immer zu
finden sind, wenn man sie sucht — und löste dann,
als seien die Analogien an sich beweiskräftig, das
hineinprojizierte Gesetz wieder heraus, als ob man
nun etwas Neues gefunden habe. Aus dem solcher
Art entwickelten gesetzmäßigen Rhythmus des Ge-
schehens zog man dann gar Folgerungen auf die
Zukunft. Zumeist hat leider schon die folgende
Epoche bewiesen, daß sie sich dem Gesetz nicht
beugen wollte, und so haben sich derlei Versuche
stets als das Produkt verhängnisvoller Trugschlüsse
erwiesen. Die naturgeschichtlich zwingende Beweis-
kraft, die man solchen Theorien zumutete, konnte
nicht standhalten, weil eben Naturwerden und Kunst-
werden nicht gleichzusetzen sind. Hans Tietze hat
in seinem mit schärfstem Verstände geschriebenen
Buche . »Die Methode der Kunstgeschichte« bereits
gezeigt, wo der Fehler liegt: Ȇbereinstimmung zweier
oder mehrerer Entwicklungsreihen kann noch kein
Gesetz genannt werden. Denn es liegt im Charakter
des historischen Stoffes, daß die Identität der Ur-
sachen nicht bewiesen werden kann . . . Der Über-
gang zu einer wirklichen Kausalität läßt sich nirgends
vollziehen.« Das ist es ja letzten Endes, was die Ge-
schichte des Kunstwerdens von der Biologie trennt:
Die Naturgeschichte erkennt nicht nur Wirkung, sondern
auch Ursache jedes Einzelfalles und kann empirisch
aus dieser Kausalverknüpfung das Gesetz ableiten.
Beim kunsthistorischen Einzelfall läßt sich nun zwar
meist die Wirkung auf das Kommende eindeutig

bestimmen, nie aber — wenigstens dann nicht, wenn
wir, wie es einzig bisher geschehen ist, uns mit dem
Kunstwerk bloß als gestaltetem Ausdruck befassen —
die Ursache.

Im Augenblick jedoch, wo wir zu einer der
Wurzeln aller bildenden Gestaltung, zum Sehen
selbst herabsteigen, und einmal von allem den Formen
anhaftenden Ausdruckswillen absehen, stoßen wir auf
eine Schicht, die allerdings eine Gesetzesfindung zu
gestatten scheint. Denn, wenn es zu beweisen ist,
daß die Wandlungen in der Formanschauung auch
die Wandlungen des künstlerischen Ausdrucks be-
stimmen, daß dieser also an Grenzen gebunden ist,
die im menschlichen Auge und dessen sich wandeln-
der Empfindlichkeit für die Eindrücke von außen her
selbst liegen, so begeben wir uns auf den gleichen
Boden wie die Biologie. Damit aber ist auf einmal
der Versuch, einen tatsächlichen Kausalnexus herzu-
stellen, sehr viel aussichtsreicher geworden und damit
auch die Hoffnung auf die Findung eines zuverlässigen
Periodizitätsgesetzes. Vollzieht sich der im Verlauf
der Geschichte zu beobachtende Wandel in der Form-
anschauung auf dem Boden einer ihre Richtung all-
mählich verändernden Augenempfindlichkeit, so er-
scheint die Kunstgeschichte selbst zur einen Hälfte
als eine Geschichte des menschlichen Sehens,
und eine auf solchen Grundbegriffen aufgebaute Dar-
stellung würde imstande sein, über alle Biographik
hinaus lediglich zu zeigen, »wie aus einem linearen
Stil ein malerischer wird, aus einem tektonischen ein
atektonischer, usw.«, d. h. sie würde gleichsam im-
manente Strömungen verfolgen und könnte auf alle
Namen- und Datenwirtschaft im Detail verzichten.
Dazu aber ist es nötig, erst einmal die Begriffe in
die Hand zu bekommen, unter denen sich dem Pro-
blem der Stilentwicklung erschöpfend beikommen läßt

Einen entscheidenden Vorstoß auf diesem neuen
Wege hat Heinrich Wölfflin soeben in einem
Buche unternommen, das nach Form und Inhalt unter
die bedeutendsten Werke der gesamten neueren Kunst-
geschichtsschreibung gezählt werden muß1).

Den Inhalt der Schrift in dürren Worten wieder-
geben wollen, hieße ihm Gewalt antun. Man kann
ein geschichtsphilosophisches Werk, das sich in dem
knappen Rahmen von nicht 300 Seiten gibt, nicht
auf die Formel von ein paar Sätzen abziehen. Der
Gehalt läßt sich nur andeuten. Unter fünf »Kate-
gorien der Anschauung« läßt sich nach des Verfassers
Darlegungen der Wandel im künstlerischen Sehen der
Einzelepochen begreifen. Die Entwicklungslinien ver-
laufen gleichzeitig 1. vom Linearen zum Malerischen,
2. vom Flächenhaften zum Tiefenhaften, 3. von der ge-
schlossenen zur offenen Form, 4- vom Vielheitlichen
zum Einheitlichen, 5. vom Klaren zum Verunklärten
(oder von der unbedingten zur bedingten Klarheit.)
Losgelöst von aller Bedeutsamkeit für Qualität oder
Ausdruck repräsentieren sie sich für ihn als die

1) Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem
der Stilentwicklung in der neueren Kunst, von Heinrich
Wölfflin. München 1915, F. Bruckmann A.-G.
 
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