Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 27.1916

DOI Artikel:
Hagen, Oscar: Neue Ziele der Kunstgeschichtsschreibung: zu Heinrich Wölfflins neuem Buch "Kunstgeschichtliche Grundbegriffe"
DOI Artikel:
Verschiedenes / Inserate
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6189#0086

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
159

Nekrologe

160

Kunstwerdens getroffen wird. Es ist klar: das Buch
bringt nicht nur Ordnung ins historisch-stoffliche
Denken, es ermöglicht auch bei künstlerischen Aus-
nahmeerscheinungen, wie Grünewald, Correggio, Greco
es sind, gleichsam mit Abscisse und Koordinate, deren
Stellung außerhalb der normalen Konstellation festzu-
legen, und es gibt der Forschung kritische Waffen in
die Hand, aber — es kann zur Gefahr für die Historio-
graphie werden, wenn seine Prinzipien schablonen-
mäßig an die Dinge herangetragen werden. Die Kunst-
geschichte läßt sich nicht ihrem ganzen Umfange nach
auf diese Kategorien abziehen. Sie ist ein Lebendiges
und Vielseitiges, an das man nie mit fertigen Begriffen
herantreten darf, ohne ihm Gewalt anzutun, und aus
dem man immer wieder die Momente seines Werdens
durch eigenes Erleben neu herauslesen muß. Poussin
pflegte zu sagen, daß er jeden Morgen den lieben
Gott bitte, ihn wieder ein Kind werden zu lassen.
Diese Eigenschaft ist auch dem Kunsthistoriker zu
wünschen, trifft sich nur leider allzu selten bei ihm,
wenn sich die Möglichkeit bietet, ein geistvolles Sy-
stem nach allen Richtungen hin auszuschlachten.

Andererseits darf man aber auch nicht vergessen,
daß die tiefste Bedeutung dieser Kategorienlehre weit
über die Gebietsgrenzen der bloßen Geschichte der
bildenden Kunst hinausgreift. Als Wölfflin im De-
zember ig 11 seinen Akademievortrag über das gleiche
Thema hielt, schloß er mit den Worten: »Übrigens
wird, was hier auf dem Boden der neueren Kunst-
geschichte an Begriffen gewonnen worden ist, seine
ganze Bedeutung erst erhalten, wenn diese Entwick-
lung als eine periodisch sich wiederholende aufgefaßt
wird und als ein Prozeß, der mutatis mutandis nicht
nur für die Musik, sondern auch für die literarische
Auffassung der Welt ebenso in Betracht kommt wie
für die bildende Kunst«. Für die Musikgeschichte
sind die Begriffe nun schon verpflichtend, fast wie
sie dastehen. Arbeitet der Verfasser doch selbst oft
mit musikalischen Vergleichen. Für die Literaturge-
schichte tun sich ebenfalls neue Wege auf. Es wäre
ebenso lohnend, an einem einzigen Phänomen wie
Goethe den Prozeß zu verfolgen, wie aus seinem
lockeren Frühstil sich allmählich der lineare, geschlos-
sene, im Vielen einheitliche, restlos klare, klassische
Spätstil bildet, wie es gewinnverheißend wäre, das all-
gemein Verbindliche dieses Stils für seine Zeit, gegen-
über dem Stil der Moderne nachzuweisen, die sich
mit ihrer bloß andeutenden (deshalb dem Malerischen
vergleichbaren), offenformigen, nur mit Einzelakzenten
arbeitenden Weise davon unterscheidet und der
Strindberg so gut wie irgend ein Journalist unter-
liegt. Sogar für die Kategorie »Fläche und Tiefe«
müßten sich Analogien finden lassen; die Musik
scheint sie im Beharren und Ausweichen von der
Tonalität zu besitzen.

Von hier aus würde das Wölfflinsche System noch
manche Stütze bekommen. Ein Moment vor allem
würde stärker bewiesen werden können, als es auf
dem Boden der bildenden Kunst allein möglich ist:
ich meine die Tatsache der absoluten Immanenz

der Entwicklung, die durch keine äußeren Einflüsse
aus der Bahn geworfen wird. Die neuere Musik
besitzt ein anderes Anfangsdatum als die bildende
Kunst. Die »primitive« Musik fällt zusammen mit
der Zeit des Barock der bildenden Kunst und ihre
Klassik vollendet sich in der Epoche des Rokoko.
Der eigentliche musikalische Barock, in einem Stadium,
das der Epoche Berninis entsprechen würde, liegt in
unseren Tagen, fällt also mit einer Epoche des
»Primitivismus des Endes« zusammen. Eine Zeit
also, für die in der bildenden Kunst die vollständige
Auflösung aller Form und die scheinbare Willkür das
Ideal war, das Rokoko, verlangte in der Musik die
höchste Klarheit und Linearität in der geschlossenen
Form. Diese merkwürdige Tatsache ist offenbar nie
aus dem allgemeinen Zeitgeist, sondern einzig aus
der inneren Notwendigkeit eines psychologischen Pro-
zesses zu erklären. Alle Formdarstellung ist bedingt
durch das, was vorher erfüllt wurde, und die Gesetze
dieser Erfüllung sind in sich begründet, unbeeinflußt
durch alles Äußere. Und ich glaube, daß bei näherer
Berücksichtigung der Zwischenstufen man auch dazu
wird kommen müssen, daß innerhalb des Gebietes
der bildenden Kunst selbst, Malerei, Plastik und Archi-
tektur nicht als absolut gleichlaufend sich zu erkennen
geben werden, sondern Schwankungen je nach dem
Anfangsdatum ihrer Entwicklungsreihen zeigen. Wie
käme es sonst, daß die Spätgotik die prächtigsten Blüten
einer höchst malerischen Barockanschauung treibt,
während sich in der Malerei zur gleichen Stunde ein
völlig linearer Stil in seiner reinsten Klassizität vollendet?

NEKROLOGE

Adolph von Beckerath ist Ende Dezember in Berlin
im Alter von 83 Jahren gestorben. Mit ihm geht einer der
letzten aus der älteren Generation Berliner Sammler dahin,
deren Tätigkeit aufs engste mit dem Wachstum der könig-
lichen Museen unter Bodes Leitung verknüpft gewesen ist.
Beckerath stammte aus Krefeld und war Kaufmann von
Beruf. Der Beginn seiner Sammlertätigkeit liegt weit zurück.
Regelmäßige Reisen hatten ihn jährlich zweimal nach Italien
geführt. Dort entfaltete sich seine Liebe und entwickelte
sich seine Kenntnis der Kunst der Renaissance, insbesondere
des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts. Er sam-
melte, was damals noch im Überfluß vorhanden zu sein
schien und um verhältnismäßig geringen Preis zu haben
war, nämlich Werke der Plastik und des Kunstgewerbes.
Wie zur gleichen Zeit Bode für sein Museum, so kaufte
Beckerath Reliefs aus Stuck und Ton, Bronzestatuetten,
Möbel und Bilderrahmen. An Gemälden wurde nur hier
und da gelegentlich ein Stück erworben. Dafür galt Becke-
raths besondere Liebe den Zeichnungen. Auch auf diesem
Gebiete war zu jener Zeit mit verhältnismäßig geringen
Mitteln noch das allerbeste zu haben. Und hier spann
sich der Kreis sehr bald von selbst weiter. Die hollän-
dischen Meister des 17. Jahihunderts, von denen ja eine
große Menge von Zeichnungen erhalten blieb, rückten in
den Gesichtskreis des Sammlers, und es war Beckeraths
besonderer Ehrgeiz, den größten von ihnen, Rembrandt,
würdig und umfassend in seinen Mappen repräsentiert zu
sehen. Als Beckerath im Alter von 60 Jahren sich von
seiner geschäftlichen Tätigkeit zurückzog, konnte er auch
seine Sammlungen in gewissem Sinne als abgeschlossen
 
Annotationen