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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 27.1916

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Hampe, Theodor: Tagebuchblätter von einer Studienreise nach Russland (1913), [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.6189#0163

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zu Aufführungen im intimen Kreise der Zarenfamilie
bestimmt ist. Es soll hier in der nächsten Zeit auch
ein vom Großfürsten Konstantin verfaßtes Drama,
wohl eher Melodrama »Christus« zur Aufführung ge-
langen, in dem jedoch die Figur Christi nicht auf
der Bühne erscheint. In der Mitte des Stücks wird
ein großes Ballett angeordnet sein.

Schließlich waren wir zum Tee noch alle Gast
beim Herrn Obersten in dessen niedrigem aber ge-
räumigen und sehr behaglich eingerichteten Holzhause
mit Betonanbau im Orte Zarske und fuhren dann
abends sehr befriedigt von dem wiederum" vom Wetter
sehr begünstigten Ausflug nach Petersburg zurück.

Etwa um ^„lO ging es in die Einladung zum
Grafen V. S., in dessen fürstlichen Räumen wir von
den sonderbaren Klängen der Naturmusik einer echten
Zigeunerbande empfangen wurden, die dann noch eine
Reihe von Stücken und auch Tänzen zum besten gab.
Eine dicke Zigeunerfrau bildete die Mitte eines Halb-
kreises von etwa 15 jugendlicheren Zigeunerinnen,
die aber Kreuzungen zahlreicher Rassen zu sein schienen,
und gab den Ton an zusammen mit einem vor dem
Halbkreise stehenden, in blaue Seide gekleideten Geiger;
neun andereZigeuner, gleichfalls mit Streichinstrumenten,
standen hinter den sitzenden Weibern und Mädchen,
die in besonders bunte, zumeist seidene Gewänder
gekleidet waren. Eine eigentliche Schönheit war nicht
darunter; auch schienen sie trotz aller äußeren Ekstase
innerlich von ihrem wunderlichen Schreigesang nicht
sehr ergriffen zu werden. Sie sollen, wie andere
ähnliche Banden, so erzählte mir Graf S., jenseits der
Inseln im Norden von Petersburg wohnen und daselbst
leidlich seßhaft geworden sein. Namentlich von den
Vergnügungs-Unternehmungen auf den Inseln werden
sie zu Gesangsvorträgen und Tänzen engagiert, und
früher gingen die reichen Petersburger auch vielfach
zu ihnen hinaus und sollen zeitweilig — es war die
reine Zigeunermanie — wahre Unsummen an sie und
mit ihnen verschwendet haben. Tolstois nachgelassenes
Drama »Der lebende Leichnam« nimmt bekanntlich
teilweise Bezug auf diese Verhältnisse. Sich in eines
der Zigeunermädchen zu verlieben — die anwesenden
waren freilich nicht darnach — sei übrigens nicht
nur sehr kostspielig, sondern auch äußerst gefährlich.

Gesang- und Tanzdarbietungen wurden unter-
brochen durch ein phänomenales Diner, an dessen
»Sakuska« mit ihren küchenkunstgewerblichen Meister-
werken fünf Köche drei Tage lang gearbeitet hatten,
wie Prof. G. und Sch.-M., die beim Grafen S. wohnten,
zu berichten wußten.

Donnerstag, den 25. September: Schlußsitzung
in der Eremitage... Nochmaliger Gang durch die Ge-
mäldegalerie, namentlich zu den niederländischen und
deutschen Bildern . . . Dann zum »Wagenmuseum«
mit zahlreichen, zum Teil künstlerisch bedeutenden,
von Boucher, Watteau und anderen bemalten kaiser-
lichen Prunk- und Reisewagen, Schlitten, Pferde-
geschirren, Sattelzeug, Gobelins u. a. m. Unter einer
schwarzen Decke steht hier auch die halb zerschmet-
terte Kutsche, in der Alexander II. an jenem unglück-

lichen Märztage 1881 fuhr. Eine Bombe zerschmetterte
den hinteren Teil der Kutsche, ohne indessen den
Kaiser zu verletzen; als dieser dann aussteigen wollte,
flog ihm die zweite Bombe gerade unter die Füße
und zerriß ihn.

Noch in die Große Bibliothek am Alexandraplatz,
der durch das klassizistische Alexandratheater mit
seiner stattlichen Säulenvorhalle und mit dem treff-
lichen Denkmal Katharinas II. gut wirkt. Sehe in der
Bibliothek den Katalog der deutschen Handschriften
durch und bestelle mir davon vier — mehr kann man
auf einmal zur Durchsicht nicht erhalten — für den
folgenden Tag. Unter den deutschen Handschriften
historischen Inhalts scheint besonders viel Wertvolles
nicht zu sein, höchstens mit Beziehung auf die bal-
tischen Provinzen. Auch auf Schlesien und Sachsen
bezügliche Handschriften sind ziemlich zahlreich1).

Abends allesamt bei Herrn P. P. W. zu Gast, dem
Begründer und Herausgeber der einzigen russischen
Zeitschrift für neuere Kunstgeschichte »Staryje Gody«
(„OapLie ToAti,,) die schon auf etwa zehn Jahrgänge
zurückblickt. Herr W., ein noch junger Mann und,
wie die meisten gebildeten Russen auch des
Deutschen, Französischen und Englischen ziemlich
gleichmäßig mächtig, traktierte uns vor allem mit einem
ebenso originellen, wie künstlerisch feinen und wohl-
lautenden Balalajka-Konzert, das von einem ansehn-
lichen Orchester unter Leitung des vorzüglichen Di-
rigenten W. W. Abasa zu Gehör gebracht wurde.
Außer etwa acht Balalajkas (Lauten mit dreieckigem
Körper) wirkten noch etwa acht ähnliche Instrumente,
doch mit halbkugelförmigem Resonanzkasten statt
des dreieckigen, sowie ein »Gusli«, ein Zwischending
von Cymbal und Klavier mit einer nur eine Oktave
umfassenden Klaviatur, dabei mit.

Etwa um 1/2i 1 Uhr folgte ein eigenartiges Früchte-
und Süßigkeitenessen größten Stils, dann wieder Musik-
vorträge. Um 1 Uhr ging man zu Tisch, wobei
wieder eine jeder Beschreibung spottende Sakuska-

1) Auf die Auszüge, die ich mir aus dem handschrift-
lichen Katalog machte, gehe ich hier nicht näher ein.
Höchstens sei erwähnt: Geschichte Nr. 44: Antiquitäten
und andere Nachrichtungen über das churfürstl. sächs.
Schloß, wie auch die Capeila Duum zu Meißen, 22 Bl. —
Geschichte Nr. 87: Beschreibung eines Antikenkabinetts.

— Geschichte Nr. 89: Über das Medaillenkabinett zu Hanau.

— Mechanische Künste 4". Nr. 2ff.: Einige Kunst- und
Büchsenmeisterbücher, Probierbücher, Kochbücher. — Freie
Künste, 2°. Nr. 1: Allerlei Risse von den 5 Säulen, wobei
des Baumeisters Reichenbach getane Anweisung . . . bei-
liegt, 123 Bl. — Nr. 2: Wolfgang Fugger, Nürnberg, Eine
gute Austeilung der Römischen oder lateinischen Buch-
staben, 1553. Nr. 3: Catalogus von Schildereien, 16. Bl.
Nr. 4 u. 5: Zwei weitere Kalligraphen-Bücher. — Freie
Künste, 4°. Nr. 1: Verzeichnis eines Kupferstichkabinetls.
Nr. 6: Raisonnierender Katalog der Sammlung Herrn Hein-
rich Lausbergs, Handelsmannes zu Frankfurt a. M., verfaßt
von Chr. v. Mechel, 1804, 71 Seiten, Geschenk Elters.
Nr. 7: Georg Grimmer, Zeichenbuch für Posamenterie und
Bortenwirken. — Freie Künste, 8Ü. Nr. 1: Melchior Gold-
ammer, Vorschriften, 1551, Pergament, 24 Bl. — Eine ge-
nauere Prtifung des Inhalts dieser Handschriften vorzu-
nehmen, war mir leider nicht möglich.
 
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