einzelnen Fall. Eine Kritik also, die zu unterscheiden weiß zwischen be-
deutenden Gedanken, glühenden Gefühlen und leuchtenden Anschauungen, die dem
Leser zu zeigen vermag: sieh, hier versagt das eine, quäle dich nicht, aus diesen
und diesen Gründen kannst du's nicht finden, aber dafiir findest du jenes andere,
darein vertiefe dich, erfreue dich dessen. Träte eine solche Kritik an dcr
»alles verschlingenden Bewunderung« Stelle, sie würde Einzelnes, vor allem
den zweiten Teil des Faust, nicht geringschätzen lehren, aber aus dem Tempel
der höchsten künstlerischen Emanationen des Menschengeistes hinweg zu jenen
stillen Heiligtümern der Pietät stellen, die von dem vergeblichen Ringen airrh
der Gewaltigsten unter uns Menschen tragisch rührend erzählen. Dafür würde
sie in anderen Schöpfungen mit jedem tieferen Blick eine reifere Schönheit
finden, sie würdc davon zeugen können, sie würde sie zeigen können Mehreren
und immer Mehreren, so daß ihr heilender Strahl immer neuo Herzen sonnte
und segnete." Der Führer solcher Kritik in Deutschland Goethe gegenüber war
und ist noch heute Friedrich Theodor Vischer und kein anderer.
Jnsbcsondere über den Faust hat er immer wieder tiefeindringende Unter-
suchungen veröffentlicht, voll glühender Bewunderung für den ersten Teil, voller
Bewunderung auch für Einzelnes im zweiten, aber mit dem unwiderleglichen
Nachweis,daß die Phantasie des alterndenGoethe derungeheurenAufgabe zu lange
entfremdet und nicht jetzt mehr gewachsen war. Fast überall schattenhafte Alle-
gorien, gesprächig und unklar redend in manieristischen Vcrsen, während im
ersten Teil heiß durchblutetc Gestalten mit schöpferisch kraftvollem Worte das
Tiefste vor uns darlebcn. Aesthetisches Urteil ist in Dcutschland nie Sache der
Mehrheit gewesen, auch nicht der Mehrheit unter den Kunftgelehrten: all die
bescheidenen Geister, denen das Herumerklären an dem von Goethc in den
zweiten Teil „Hineingeheimnisten" Lebensfreude war, erhoben sich in Empörung
gegen Vischer. Er antwortete ihnen zunüchst in ernsthaften Widerlegungen.
Dann aber ward er dos trocknen Tones satt und schrieb als „Deutobold Sym-
bolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky" in dcr Hauptsache nicht gegen Goethe,
sondorn gegen seine „Erklärer" dio überlustige Burleske „Faust, der Tragödio
dritter Teil", die bei Laupp in Tübingen herauskam. Die ift's nun besonders,
welche Vischern noch heutigen Tags viele Leute nicht verzeihen können. Schade,
daß sie ihrer zahllosen Anspielungen wegen ganz nur für den verständlich ist,
der jene literarischen Kämpse kennt — wer das nicht thut, möge wenigstens
das „Nachspiel" zum dritten Teil vor diesem selber lesen. Wir aber wollen
Vischer sich selbst verantworten lassen. Er thut's in jenem Nachspiel. Das
küstliche Gezänk zwischen dcn „Stoffhubern" und dcn „Sinnhubern" hat mit
dem Hinauswurf der ganzen Gesellschaft aus des ehrlichen Valentin Himmels-
fahrer-Wirtshaus geendet, als ein „alter Herr", nämlich der selige Goethe, cin-
getreten ist. Dann kommt auch ein „Unbekannter", Vischer, dazu, und setzt sich
in eine Ecke.
Uubekauuter (ist aufinerksam gewordeu; für sich): Lr ist's. Ls sei >
Lr spricht ja hell und frei.
(Er tritt vor den alten lserrn und verbeugt sich ehrerbietig.)
Ich stelle mich.
Alter lferr: lUas foll's? U)er hieß es Luch?
was wollt, was seid Ihr? Lagts nur gleich l
U n b e k a n n t e r: Urhcbcr des Gedichtes: Faust,
Der Tragödie dritter Teil,
2. Maiheft tMo
deutenden Gedanken, glühenden Gefühlen und leuchtenden Anschauungen, die dem
Leser zu zeigen vermag: sieh, hier versagt das eine, quäle dich nicht, aus diesen
und diesen Gründen kannst du's nicht finden, aber dafiir findest du jenes andere,
darein vertiefe dich, erfreue dich dessen. Träte eine solche Kritik an dcr
»alles verschlingenden Bewunderung« Stelle, sie würde Einzelnes, vor allem
den zweiten Teil des Faust, nicht geringschätzen lehren, aber aus dem Tempel
der höchsten künstlerischen Emanationen des Menschengeistes hinweg zu jenen
stillen Heiligtümern der Pietät stellen, die von dem vergeblichen Ringen airrh
der Gewaltigsten unter uns Menschen tragisch rührend erzählen. Dafür würde
sie in anderen Schöpfungen mit jedem tieferen Blick eine reifere Schönheit
finden, sie würdc davon zeugen können, sie würde sie zeigen können Mehreren
und immer Mehreren, so daß ihr heilender Strahl immer neuo Herzen sonnte
und segnete." Der Führer solcher Kritik in Deutschland Goethe gegenüber war
und ist noch heute Friedrich Theodor Vischer und kein anderer.
Jnsbcsondere über den Faust hat er immer wieder tiefeindringende Unter-
suchungen veröffentlicht, voll glühender Bewunderung für den ersten Teil, voller
Bewunderung auch für Einzelnes im zweiten, aber mit dem unwiderleglichen
Nachweis,daß die Phantasie des alterndenGoethe derungeheurenAufgabe zu lange
entfremdet und nicht jetzt mehr gewachsen war. Fast überall schattenhafte Alle-
gorien, gesprächig und unklar redend in manieristischen Vcrsen, während im
ersten Teil heiß durchblutetc Gestalten mit schöpferisch kraftvollem Worte das
Tiefste vor uns darlebcn. Aesthetisches Urteil ist in Dcutschland nie Sache der
Mehrheit gewesen, auch nicht der Mehrheit unter den Kunftgelehrten: all die
bescheidenen Geister, denen das Herumerklären an dem von Goethc in den
zweiten Teil „Hineingeheimnisten" Lebensfreude war, erhoben sich in Empörung
gegen Vischer. Er antwortete ihnen zunüchst in ernsthaften Widerlegungen.
Dann aber ward er dos trocknen Tones satt und schrieb als „Deutobold Sym-
bolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky" in dcr Hauptsache nicht gegen Goethe,
sondorn gegen seine „Erklärer" dio überlustige Burleske „Faust, der Tragödio
dritter Teil", die bei Laupp in Tübingen herauskam. Die ift's nun besonders,
welche Vischern noch heutigen Tags viele Leute nicht verzeihen können. Schade,
daß sie ihrer zahllosen Anspielungen wegen ganz nur für den verständlich ist,
der jene literarischen Kämpse kennt — wer das nicht thut, möge wenigstens
das „Nachspiel" zum dritten Teil vor diesem selber lesen. Wir aber wollen
Vischer sich selbst verantworten lassen. Er thut's in jenem Nachspiel. Das
küstliche Gezänk zwischen dcn „Stoffhubern" und dcn „Sinnhubern" hat mit
dem Hinauswurf der ganzen Gesellschaft aus des ehrlichen Valentin Himmels-
fahrer-Wirtshaus geendet, als ein „alter Herr", nämlich der selige Goethe, cin-
getreten ist. Dann kommt auch ein „Unbekannter", Vischer, dazu, und setzt sich
in eine Ecke.
Uubekauuter (ist aufinerksam gewordeu; für sich): Lr ist's. Ls sei >
Lr spricht ja hell und frei.
(Er tritt vor den alten lserrn und verbeugt sich ehrerbietig.)
Ich stelle mich.
Alter lferr: lUas foll's? U)er hieß es Luch?
was wollt, was seid Ihr? Lagts nur gleich l
U n b e k a n n t e r: Urhcbcr des Gedichtes: Faust,
Der Tragödie dritter Teil,
2. Maiheft tMo