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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

DOI issue:
Heft 19 (1. Juliheft 1900)
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Bartels, Adolf: Kunst und Wissenschaft als Völkerwertmesser
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https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0259

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nahe, da an meine Vorfahren, die alten Dithmarscher zu denken. Eine
geistige Erbschaft haben sie kaum hinterlassen, denn von ihren Liedern
sind nur wenige erhalten und von ihren Volksreden, die sehr gut ge-
wesen sein sollen, kaum eine, von den Formen ihres kleinen republikani-
schen Musterstaates ferner ist beinahe nichts übrig. Aber sie haben Jahr-
hunderte lang als freie Männer den Kopf hoch tragen dürfen, haben
immer Arbeit und Kamps und auch wohl Essen genug gehabt — und
ich denke, das wäre doch auch etwas. Da aber kommt der moderne
Historiker und sagt mir, meine Vorfahren seien Barbaren gewesen, sie
hätten die Kultur der Menschheit nicht gefördert, sondern sie eher be-
hindert, weil sie ewig Händel hatten und sich dem friedlichen Kaufmann,
der ja der Pionier der Kultur ist, als Piraten unangenehm machten.
Das stimmt nun nicht ganz; denn die wirtschaftliche Kultur ihres Landes
haben die Dithmarscher sehr hoch gebracht, wozu wohl auch geistige
Kraft gehört, und sind später selbst so etwas wie Mitglieder der Hansa
gewesen, aber selbst wenn es richtig wäre, wer gibt uns das Recht, ein
Volk zu verdammen, weil wir nichts mehr von ihm haben? Man miß-
verstehe mich nicht, ich weiß recht gut, daß ein gesundes kraftvolles Volk,
wenn es in seiner Entwicklung nicht gestört wird, zuletzt auch geistige,
Kunst- und Wissenschaftswerte hervorbringt — und höhere politische, soziale,
wirtschaftliche Formen sind ja auch schon geistige Werte. Jch will nur
nicht, daß man das Konkrete dem Abstrakten zuliebe unterschätzt. Der
Geist braucht einen Körper, sonst ist er ein Gespenst, ein Volk braucht
kräftiges äußeres Leben, sonst taugt auch seine Kunst und Wissenschaft
nichts. Das Leben in der Wirklichkeit über das im Geiste, das That-
genie über das Kunstgenie zu stellen, fällt mir, wie ich noch ausdrück-
lich hervorheben will, trotzdem durchaus nicht ein; ich bin mir klar be-
wußt, daß der Künstler in dem nämlichen Maße seine Energie nach
innen sammeln muß,,wie der Thatmensch die seinige nach außen, ein
großes Kunstwerk ist auch eine That — aber ich trete der von modernen
Heuchlern und Schwächlingen, ja, von ganzen Parteien verbreiteten An-
schauung entgegen, als ob nur die hohe künstlerische und wissenschaftliche
Leistung „der Menschheit würdig sei", wogegen die des Feldherrn und
die des Politikers sehr viel weniger bedeute. „Vivat Goethe, psrsat
Bismarck" rufen diese Leute, weil ihnen dieser öfter unangenehm ge-
worden ist, jener aber, der, gottlob, tot und kein Konkurrent mehr,
nicht. Wir rufen „Heil Goethe" und „Heil Bismarck!"

Kunst und Wissenschaft sind also nicht die einzigen und nicht immer
die höchsten Wertmaßstäbe für die Völker, sind es jedenfalls dann noch nicht,
wenn diese noch frisch und kräftig dahinleben, sind es vor allem auch
nicht zu jeder Zeit. Ein jedes Volk darf für sein gesamtes nationales
Leben Eigenwert beanspruchen, darf den Menschheitsstandpunkt bei seiner
Beurteilung abweisen, da anzunehmen ist, daß der Begriff „Menschheit"
bei den verschiedenen Völkern je nach ihren Bedürfnissen und Wünschen
verschieden ist, darf für die verschiedenen Zeiten die Art und Richtung
seiner hauptsächlichsten Lebensbethätigungen, soweit dies möglich ist, d. h.
soweit sie nicht einfach unbewußt sind, selbst bestimmen und das Wert-
urteil der anderen Völker darüber nicht beachten. Eine gegenseitige Be-
cinflussung der Völker wird trotzdem immer bestehen, aber jene seltsamen
Forderungen des cinen Volks an das andere, nach denen beispielsweise

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