Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1900)
DOI Artikel:
Bartels, Adolf: Kunst und Wissenschaft als Völkerwertmesser
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0260

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
das eine das Volk der Dichter und Denker zu bleiüen hat, während sich
das andere rücksichtslos der Herrschaft über Land und Meer bemcichtigt,
die werden wohl endlich aufhören. Und auch die nicht minder seltsamen
Ansprüche gewisser Völker an sich selbst, die ihm oftmals geradezu ein-
geredet worden sind. Wo steht z. B. geschrieben, daß wir in jcdem
Menschenalter große Dichter habcn, daß wir einen neuen Shakespere
hervorbringen müssen? Kommen sie wirklich, so wollen wir uns glück-
lich preisen, die Hauptsache ist aber doch, daß wir in jeder Periode
unserer Geschichte uns nach den Kräften, die gerade in uns vorwalten,
ausleben. Kriegerische Tüchtigkeit, gesetzgeberische Fähigkeit, soziales
Organisationsvermögen, wirtschaftliche Energie sind eben so wichtige
nationale Eigenschaften wie künstlerische und wissenschaftliche Begabung,
sind noch um so wichtiger, weil sie die Ausübung der letztgenannten er-
leichtern. Aber man möchte uns immer wieder einreden, wir Deutschen
hätten das besondere Talent, eine große künstlerische und wissenschaft-
liche Kultur ohne die reale Lebensunterlage hervorzubringen. Ei, so sehe
man sich unsere klassische Periode doch nur einmal genau an! Der
war der große politische Aufschwung der Friederizianischen Kriege, die
doch auf ganz Deutschland im nationalen Sinne eingewirkt hatten, voraus-
gegangen, und sie gründete sich auf relativ gesunden sozialen und wirt-
schaftlichen Verhältnissen, auf einer starken Ausgleichung, die unter den
Ständen des Volkes eingetreten war, auf der landesväterlichen Sorgfalt
der meisten Regierungen. Und das kleine Weimar wurde vielleicht zum
Teil auch deshalb mit der Mittelpunkt, weil es (mit kurzer Unter-
brechung) seit mehr denn hundert Jahren gut regiert worden war. Noch
fehlt uns ja die deutsche Literaturgeschichte im Rahmen einer Darstellung
der deutschen Gesamtkultur — sie wird eines Tages geschrieben werden,
und dann wird man sehen, daß üußere und geistige Kraftbethätigung
in viel engerem Zusammenhange stehen, als man durchweg glaubt.
Mein Heimatland Dithmarschen — ich denke jetzt an das spätere,
nicht mehr sreie — mit seinen sechzigtausend Einwohnern und fünf
Städtchen hatte niemals viel sogenannte Bildung, aber doch hat jedes
Städtchen seine deutsche Notabilität hervorgebracht: Lunden den opitzi-
schen Satiriker Rachel, Meldorf den Hainbunddichter Boje, Wesselburen
Hebbel,HeideKlaus Groth und Marne gar zweh den Theologen KlausHarms
und den Germanisten Müllenhof. Dazu gibt's auch noch lokale Berühmt-
heiten. Gutes deutsches Blut und gesunde soziale und wirtschaftliche Ver-
hältnisse sind eben viel mehr krafterzeugend und -entwickelnd als all-
gemein verbreitete „Bildung". Sehen wir doch auch, in Analogie dazu,
daß sich die großen Dichter selber weniger mit der Poesie „an sich" be-
schäftigen, als mit dem Leben und den mit ihm am unmittelbarsten zu-
sammenhängenden Wissenschaften wie Geschichte und Naturwissenschaft;
daraus erwächst ihre Poesie, und hier wie dort tritt das Wort in sein
Recht, daß man den Baum an den Wurzeln begießen muß und nicht
die Blüten, wenn mehr als verkrüppeltes Zeug dabei herauskommen soll.
Ein starkes echtdeutsches politisches, soziales, wirtschaftliches Leben wird
die Blüte deutscher Kunst und Wissenschaft sicher nach sich ziehen.

Freilich, die Völker sind verschieden begabt, das eine mehr für die
praktische Thätigkeit, das andere mehr für Kunst und Wissenschaft, auch
von den künstlerisch begabten wieder das cine mehr für die Literatur,
Aunstwart
 
Annotationen