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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

DOI issue:
Heft 22 (2. Augustheft 1900)
DOI article:
Lublinski, Samuel: Ein Schulbeispiel des Naturalismus
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0386

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Frage, sondern stellt die ökonomischen und seelischen Bedingungen dar, welche
eine soziale sehr passive Gruppe schlietzlich zum Widerstand und zur Revolte
treiben. Hier also ist der Stimmungswert des Naturalismus wirklich
Nebensache, und dieses Kunstprinzip gelangt einzig und allein aus Gründcn
der Technik zur Berwertung. Eine eindringliche soziale Psychologie lätzt sich
eben nicht im al kresko-Stil geben, sondern bedarf der sorgfältigen Gruppierung
unzähliger Einzelfaktoren, die nur durch die energische analytische Methodc des
Naturalismus herbeizuschafsen sind. Auch läßt sich nicht leugnen, daß diese
Kunst ihren Rahmen schon bedeutend weiter spannen kann, als der Naturalis-
mus der Stimmung. Eben immer, wo es die lebensvolle Darstellung einer
sozialen Gruppe gilt, ist diese Kunstübung am Platz. Jcdes Kunstwerk, wclches
Klassizität und Dauerbarkeit erlangen will, muß in eincm lebcndigen und ganz
und gar anschaulichen Einzelschicksal zugleich ein typischcs Gesetz eingefangen
haben. Für dic soziale Gruppe läßt sich aber diese Typik nur durch die
naturalistische Mcthode gewinncn. So ist in den .Webern" das Einzel-
schicksal einer schlesischen Sozialgruppe mit elemcntarischer Wucht zur Dar-
Itellung gcbracht worden, und wir haben zugleich das Gefühl, daß gcwisse
prägnante Einzelheitcn dieser Hungerrevolte eben in jeder Nevolte dieser
Art, ob sie in Schlesien oder im dunkelsten Afrika unter Negervölkern spielt,
stets wiederkehren wird. Hauptmanns außerordentliche 5kunst bcstand dnrin,
daß er uns dieses Gefühl einer menschlichen Allgemcingültigkcit aufzuzwingen
vermochte, ohne der unerhört lebensvollen Bcsonderhcit dieser schlesischen Weber
irgendwie zu nahe zu tretcn. Freilich bsrührt er sich hicr insoforn mit dcm
Stimmungsnaturalismus, als er sich im großen und ganzen doch aus die
dumpfe und primitive Naturkraft des Hungers bcschrünkt. Eine sozialc Gruppc
kann aber doch noch, so primitiv sie sich gegenüber der ausgebildeten Jndivi-
dualität auch ausnimmt, von vicl komplizierteren und mannigfaltigeren
Motiven psychologisch beeinslußt werdcn, als cs bei dcn schlesischcn Wcbcrn
der Fall ist- Noch fehlt uns die Blüto des Naturalismus, diese seelischc Dar-
stellung einer innerlich mannigfaltigen sozialen Gruppe. Wenn die heute so
viel empfohlene Heimatskunst, gegen die mancher von uns ein tiefes Miß-
trauen nichr unterdrückcn kann, thatsüchlich nicht den Hintcrgcdanken hat, sich
in mystisch-romantisch-clementarische Sonderlichkeitcn in büscr Absicht zu ver-
kriechen, sondern die seelische Darstellung der sozialen Gruppe — dieses Wort
im allerweitesten Sinn gcnommen — um cine Stufe emporzuführen, dann
könnte sie sich in Wahrhcit cin großes Verdicnst um die dcutsche Dichtung er-
werben. * Damit wäre aber dic künstlcrischc ZcugungSkraft dcs NaturaliSmus

* Der Kunstwart hat der Bewcgung der „HcimatSkunst" von Ansang an
nahe gestanden, kennt viele dcr hier mitarbcitendcn Persünlichkciten rccht gut
und darf deshalb dcm Hcrrn Einsender ivohl vcrsichern: sie haben weder solchc
noch sonstigc „büse Absichtcn". Es ist mir schwcr vcrständlich, wie Lublinski
und andere die Erklürung sür diese im Grunde so einfache Bewcgung wie auf
Umwegen bei allerhand „Absichtcn" und Theorien sucht, nn dic kciner der
Heimatcrzühler gcdacht hat. Die Heimatskunst war von Anfang an nichts
weiter, als eine dcutsche Ncaktion auf die kosmopolitischcn Knnstmoven: einigcn
gesunden Talcntcn widcrstand cs gefühlsmäßig, nach dcn von dcn Modernen
empfohlenen frcmden Mustcr-Jsmen zu dichtcn, sie fragtcn sich: wns steht mir
am nüchsten, was kcnne ich am bestcn, und fandcn da ihrc Heimat vor. Da
sie mcist kcinc Großstädtcr warcn (wic viele uuter uns sind das der Geburt
nach?), gab's mcist „Provinzkunst". Aber keinem dcr Leutc fällt cs cin, solchc
„Provinzkunst" sür die cinzig wahre Kunst zu hallcn, sic vermutcn nur, daß
zehn schlichte aber sclbstempsundene echle Gefühle vielleicht doch mehr wiegcn,

llunstwart
 
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