auch vollkommcn erschöpft. Er oersagt, sobald er über diese Höhe hinaus zur
Darstellung der Wechselwirkung zwischen Gruppe und Jndividualität, mit cinem
Wort zur grotzen Kunst emporstrebt. Und alsdann beginnt mit der ästhetischen
zugleich auch die moralische Frage.
Klara Viebigs Roman wollte die Wechselwirkung zwischen einer Jndivi-
dualität und dem .Weiberdorf" darstellen. Es gelang ihr aber nur das Dorf,
und statt der Jndividualität zcichnete sie ein willen- und haltloses kleines
Lümpchen hin, weil cs mit Naturalismus nicht anders ging. Die Folgen
kennen wir ja schon: Diese Dichtung zerfällt in zwei unorganische Teilc, von
dcnen jcder in seiner Jsoliertheit einen durchaus abstoßenden Eindruck hintcr-
läßt, weil diesen Rohstoffen die innerste Seele, der elektrisch überspringende
Funke fchlt. Fast könntc man sich an Sudermanns „Johannes" gemahnt
fühlen, so gründlich diese beiden Werke sonst auch von einandcr abstehen. Aber
auch Sudcrmanns altjüdischer Prophet leidet an dem Grundgebrechen, daß er
gar kein Prophet ist. Keinc Jndividualität, keine Eigenwelt für sich allein,
sondern ein ganz passivcS Etwas. Wäre der Sudermannschc Johanncs wirk-
lich jcner zürnende und eiferoollc Prophct der Bibel, dann wären auch die
„Scnsationcn" diescr Dichtung, wären die unkeusche Salome und der ganze
entartetc Hof dcs jüngercn Herodcs durchaus am Platz. Denn dann erst würdcn
wir ja vcrstehcn, wic und wodurch sich dieser surchtbare und düstere Prophcten-
zorn in dcm gcwaltigen Mann entwickeln konnte. Nun aber, wo dcr grandiose
Nabbi Jochanan zum molluskenhaften Melancholiker herabgesunken ist, macht
er ganz den Eindruck, als wäre er nur ein Vorwand sür andere Dingc.
Und alsdann spricht mancher Kritikcr hier wie auch beim „Weiberdorf" von
frivoler Sensationssucht und ruft in seiner Verlegenheit wohl gar nach dem
Staatsanwalt oder nach cinem Ehrengericht von Sachverständigcn. Er ahnt
gar nicht, welch einen großen Gefallen er den angefeindetcn Autorcn crweist.
Denn nun könncn sie dcn ganzcn Streit auf das moralische Gcbict hinübcr-
spiclcn und das künstlerische Grundgebrechen ihres Werkes glücklich vcr-
schlcicrn. Jn eincm etwas anderen Sinn, als die meistcn Kritikcr meinen,
könntc nämlich in dcr That hier von eincr gewisscn Scnsationssucht gesprochen
wcrden. Wenn der Künstler zu erkennen beginnt, daß cr zu hoch hinaus ge-
wollt hat und den Nückzug doch nicht amrcten will, dann mag cr wohl halb
aus Verzwcislung und halb aus Berechnung, manchmal wohl auch ganz un-
bewußt, dcn „scnsationcllen" Beitandteil dcs Kunstrverkes übcrmüßig und gc-
waltsam hcraustrciben, weil hicr die künstlerische Arbcit leichtcr von dcr Hand
geht, als bei dcr Ausgestaltung dcr großen oder auch nur cigenartigen Jndivi-
dualität. Dic zehnjährige naturalistische Schulung wcrdcn unsere Dichter und
Schriftstcller, dic doch nicht zu dcn ganz Großcn gchörcn, gar so bald nicht
wicdcr los. Jcdcnsalls kann abcr cinc solche gcwaltsame Ucbertreibung und
HcrauStrcibung cincs cinzclncn Bestandtcilcs gar nicht scharf gcnug verurteilt
wcrden, und das ästhctischc Vcrbrcchen wird insofern auch zu cinem moralischcn,
als man vom Künstlcr vcrlangcn darf, daß cr cincn Stoff, dem cr nicht ge-
wachscn ist, wicdcr aus der Hand legt, statt ihn .aufzumachen". Wcitcr abcr
darf dic moralischc Forderung nicht gehcn. Eine Kritik, die dcn künstlerisch
wundcn Punlt dicscr Ucbcrgangswerke wieder und wicder uncrbittlich bloßlcgt,
als zchn großc Gcslcn nach Vorspiclcrn, und bestrcbcn sich im übrigen, cin
jcder nach scinem Vermögcn, vom sichcrn Grundc der Hcimat aus zur Höhen-
kunst hinauszukommcn. F. Av.
2. Augustheft igoo
Darstellung der Wechselwirkung zwischen Gruppe und Jndividualität, mit cinem
Wort zur grotzen Kunst emporstrebt. Und alsdann beginnt mit der ästhetischen
zugleich auch die moralische Frage.
Klara Viebigs Roman wollte die Wechselwirkung zwischen einer Jndivi-
dualität und dem .Weiberdorf" darstellen. Es gelang ihr aber nur das Dorf,
und statt der Jndividualität zcichnete sie ein willen- und haltloses kleines
Lümpchen hin, weil cs mit Naturalismus nicht anders ging. Die Folgen
kennen wir ja schon: Diese Dichtung zerfällt in zwei unorganische Teilc, von
dcnen jcder in seiner Jsoliertheit einen durchaus abstoßenden Eindruck hintcr-
läßt, weil diesen Rohstoffen die innerste Seele, der elektrisch überspringende
Funke fchlt. Fast könntc man sich an Sudermanns „Johannes" gemahnt
fühlen, so gründlich diese beiden Werke sonst auch von einandcr abstehen. Aber
auch Sudcrmanns altjüdischer Prophet leidet an dem Grundgebrechen, daß er
gar kein Prophet ist. Keinc Jndividualität, keine Eigenwelt für sich allein,
sondern ein ganz passivcS Etwas. Wäre der Sudermannschc Johanncs wirk-
lich jcner zürnende und eiferoollc Prophct der Bibel, dann wären auch die
„Scnsationcn" diescr Dichtung, wären die unkeusche Salome und der ganze
entartetc Hof dcs jüngercn Herodcs durchaus am Platz. Denn dann erst würdcn
wir ja vcrstehcn, wic und wodurch sich dieser surchtbare und düstere Prophcten-
zorn in dcm gcwaltigen Mann entwickeln konnte. Nun aber, wo dcr grandiose
Nabbi Jochanan zum molluskenhaften Melancholiker herabgesunken ist, macht
er ganz den Eindruck, als wäre er nur ein Vorwand sür andere Dingc.
Und alsdann spricht mancher Kritikcr hier wie auch beim „Weiberdorf" von
frivoler Sensationssucht und ruft in seiner Verlegenheit wohl gar nach dem
Staatsanwalt oder nach cinem Ehrengericht von Sachverständigcn. Er ahnt
gar nicht, welch einen großen Gefallen er den angefeindetcn Autorcn crweist.
Denn nun könncn sie dcn ganzcn Streit auf das moralische Gcbict hinübcr-
spiclcn und das künstlerische Grundgebrechen ihres Werkes glücklich vcr-
schlcicrn. Jn eincm etwas anderen Sinn, als die meistcn Kritikcr meinen,
könntc nämlich in dcr That hier von eincr gewisscn Scnsationssucht gesprochen
wcrden. Wenn der Künstler zu erkennen beginnt, daß cr zu hoch hinaus ge-
wollt hat und den Nückzug doch nicht amrcten will, dann mag cr wohl halb
aus Verzwcislung und halb aus Berechnung, manchmal wohl auch ganz un-
bewußt, dcn „scnsationcllen" Beitandteil dcs Kunstrverkes übcrmüßig und gc-
waltsam hcraustrciben, weil hicr die künstlerische Arbcit leichtcr von dcr Hand
geht, als bei dcr Ausgestaltung dcr großen oder auch nur cigenartigen Jndivi-
dualität. Dic zehnjährige naturalistische Schulung wcrdcn unsere Dichter und
Schriftstcller, dic doch nicht zu dcn ganz Großcn gchörcn, gar so bald nicht
wicdcr los. Jcdcnsalls kann abcr cinc solche gcwaltsame Ucbertreibung und
HcrauStrcibung cincs cinzclncn Bestandtcilcs gar nicht scharf gcnug verurteilt
wcrden, und das ästhctischc Vcrbrcchen wird insofern auch zu cinem moralischcn,
als man vom Künstlcr vcrlangcn darf, daß cr cincn Stoff, dem cr nicht ge-
wachscn ist, wicdcr aus der Hand legt, statt ihn .aufzumachen". Wcitcr abcr
darf dic moralischc Forderung nicht gehcn. Eine Kritik, die dcn künstlerisch
wundcn Punlt dicscr Ucbcrgangswerke wieder und wicder uncrbittlich bloßlcgt,
als zchn großc Gcslcn nach Vorspiclcrn, und bestrcbcn sich im übrigen, cin
jcder nach scinem Vermögcn, vom sichcrn Grundc der Hcimat aus zur Höhen-
kunst hinauszukommcn. F. Av.
2. Augustheft igoo