Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 26.1928
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Heft 7
DOI Artikel:Mayer, August Liebmann: Zu Goyas Hundertstem Todestag
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GOYA, DIE HEXE. AUS DEM LANDHAUS GOYAS
MADRID, PRADO. PHOTO : MORENO
übung des ihm Angeborenen", in den bestellten
Arbeiten seine „Imaginacion", wie er sich selbst aus-
drückte, einzudämmen und Capricho und Inven-
cion der immer bürgerlicher werdenden Welt in
seinen Bildnissen vor allem zuweilen zu opfern.
Aber der greise Goya schloß keinerlei Kompro-
misse mehr, im übertragenen Sinne können wir
sagen: je reifer Goya wurde, desto seltener haben
wir Gelegenheit, ihn auf der Geschicklichkeit eines
Literaten zu ertappen. Nicht wegen des Inhaltes,
wegen der Motive allein ist es berechtigt zu sagen,
daß Goya seit dem Ausgang des achtzehnten Jahr-
hunderts ein immer größerer „Dichter" wird. Er
wird zusehends elementarer, und gerade die späte-
sten Zeichnungen, die letzten Radierwerke, die
nicht auf Bestellung gemalten Bilder des greisen
Mannes, vor allem die Wandmalereien aus seinem
Landhaus, die jetzt der Prado verwahrt, sind dich-
terischer Schrei und dichterisches Stammeln „ein-
fache Entladungen von Urspannungen". Hier schaltet
jeder Gedanke an die Mache, an das technische
Können aus, hier wird man überwältigt von dem
aus dem Künstler Explodierenden, von der Fülle,
von der Größe seiner Gesichte. Eine neue eigene
Welt gestaltet sich hier in Form und Farbe, und
Goya erscheint nur das von der Gottheit auser-
sehene Werkzeug, der Mitder zu sein, der in selt-
samem Gemisch von Schaffensfreude und dämonisch
leidvoller Besessenheit durch eine rätselhafte Macht
immer wieder zu Neuem angetrieben wird. Ab-
gesehen von den genannten Bildern offenbart sich
diese künsderische Besessenheit vielleicht nirgendwo
deutlicher als in den Entwürfen zur Radierungs-
folge der „Disparates". Wie bei dem späten Rem-
brandt hat man auch bei dem späten Goya das
Recht von jener Dämonie, von jenem Unberechen-
baren, jener Unberechenbarkeit zu sprechen, die
Borchardt für den Dichter allein in Anspruch
nehmen möchte.
Goya, an Velazquez und an Tiepolo geschult,
durch die französischen Enzyklopädisten geistig
geweckt, strebte bei aller innigen Verbundenheit
mit seinem Land und seinen Landsleuten nicht
nur einem großen Europäertum als Maler, sondern
einem Weltbürgertum als Mensch nach. Der Mensch
und Künstler in ihm sind nicht zu trennen. Beide
bis zuletzt leidenschaftlichst bewegt, verfolgen ein
pathetisch-romantisches Ideal.
Goya, der die letzten Jahre seines Lebens auf
französischem Boden verbrachte, hat schon geraume
z6z
MADRID, PRADO. PHOTO : MORENO
übung des ihm Angeborenen", in den bestellten
Arbeiten seine „Imaginacion", wie er sich selbst aus-
drückte, einzudämmen und Capricho und Inven-
cion der immer bürgerlicher werdenden Welt in
seinen Bildnissen vor allem zuweilen zu opfern.
Aber der greise Goya schloß keinerlei Kompro-
misse mehr, im übertragenen Sinne können wir
sagen: je reifer Goya wurde, desto seltener haben
wir Gelegenheit, ihn auf der Geschicklichkeit eines
Literaten zu ertappen. Nicht wegen des Inhaltes,
wegen der Motive allein ist es berechtigt zu sagen,
daß Goya seit dem Ausgang des achtzehnten Jahr-
hunderts ein immer größerer „Dichter" wird. Er
wird zusehends elementarer, und gerade die späte-
sten Zeichnungen, die letzten Radierwerke, die
nicht auf Bestellung gemalten Bilder des greisen
Mannes, vor allem die Wandmalereien aus seinem
Landhaus, die jetzt der Prado verwahrt, sind dich-
terischer Schrei und dichterisches Stammeln „ein-
fache Entladungen von Urspannungen". Hier schaltet
jeder Gedanke an die Mache, an das technische
Können aus, hier wird man überwältigt von dem
aus dem Künstler Explodierenden, von der Fülle,
von der Größe seiner Gesichte. Eine neue eigene
Welt gestaltet sich hier in Form und Farbe, und
Goya erscheint nur das von der Gottheit auser-
sehene Werkzeug, der Mitder zu sein, der in selt-
samem Gemisch von Schaffensfreude und dämonisch
leidvoller Besessenheit durch eine rätselhafte Macht
immer wieder zu Neuem angetrieben wird. Ab-
gesehen von den genannten Bildern offenbart sich
diese künsderische Besessenheit vielleicht nirgendwo
deutlicher als in den Entwürfen zur Radierungs-
folge der „Disparates". Wie bei dem späten Rem-
brandt hat man auch bei dem späten Goya das
Recht von jener Dämonie, von jenem Unberechen-
baren, jener Unberechenbarkeit zu sprechen, die
Borchardt für den Dichter allein in Anspruch
nehmen möchte.
Goya, an Velazquez und an Tiepolo geschult,
durch die französischen Enzyklopädisten geistig
geweckt, strebte bei aller innigen Verbundenheit
mit seinem Land und seinen Landsleuten nicht
nur einem großen Europäertum als Maler, sondern
einem Weltbürgertum als Mensch nach. Der Mensch
und Künstler in ihm sind nicht zu trennen. Beide
bis zuletzt leidenschaftlichst bewegt, verfolgen ein
pathetisch-romantisches Ideal.
Goya, der die letzten Jahre seines Lebens auf
französischem Boden verbrachte, hat schon geraume
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