ERICH MENDELSOHN, NEUBAU DER STRUMPF- UND TRIKOTAGENFABRIK „KRASNOJE SNAMJA", LENINGRAD. 1926
WESTSEITE. NACH DEM MODELL
ERICH MENDELSOHN
VON
KARL S CHEFFLER
Tm Telephonbuch nennt Erich Mendelsohn sich Diplom-In-
*- genieur. Der Titel klingt für Architekten etwas schnurrig,
obwohl er landesüblich ist. Auf Mendelsohns Eigenart aber
paßt er nicht übel. Dieser Berliner baut so, daß man ihn
einen Bauingenieur nennen möchte. Baumeister im höchsten
künstlerischen Sinne gibt es heute überhaupt nicht mehr,
kann es nicht mehr geben. Die Summe der Bauerfahrungen
ist heute sehr groß, das Geniale aber tritt schon seit langer
Zeit nicht mehr hinzu. Etwas anderes nimmt teil, etwas Be-
wußtes, Wissenschaftliches. Und dieses eben wird durch das
Wort Bauingenieur bezeichnet. Das Wort deutet auf das
Konstruktive, Rechnende, Gedankliche und Kollektivistische,
auf das, was im neuen Bauen großstädtisch ist, was darin
befreit ist von Kunstgewerblichkeit und Stilnachahmung, und
was darauf aus ist, dem Ingenieurmäßigen, dem sich indu-
striealisierenden Bauwesen neue künstlerische Gestaltung
und Materialwirkung abzugewinnen. Mendelsohn steht in
der vordersten Reihe derer, die alle Konsequenzen ziehen.
Er kennt Amerika und Rußland aus eigener Anschauung und
sucht eine Mitte, die kein Kompromiß ist. Seine Bauformen
singen und klingen wenig; sie reden Prosa und betonen
das Rationelle. Aber mit einer gewissen Emphase. Oft nei-
gen sie einem kühlen Pathos zu, jener Monumentalromantik,
die bei den Deutschen nun einmal nicht ausstirbt und die
es macht, daß die meisten unserer Architekten in wörtlicher
Bedeutung zu hoch hinaus wollen. Dieses Pathos weiß Mendel-
sohn aber von Jahr zu Jahr besser zu bändigen, es wird immer
fester eingeschlossen und strenger versachlicht von den kon-
struktiven Eisenbalken des Gerüsts.
Mendelsohn begann mit Entwürfen auf Papier, mit Ideen
großer moderner Bauten, die gezeichnet fast wie Buch-
ornamente aussahen. Neulich waren in der Galerie Neumann-
Nierendorf viele dieser Zeichnungen neben großen Bau-
modellen ausgestellt. Wieder wurde es deutlich, wie stark
Mendelsohn in diesen frühen Entwürfen von Henry van de
354
WESTSEITE. NACH DEM MODELL
ERICH MENDELSOHN
VON
KARL S CHEFFLER
Tm Telephonbuch nennt Erich Mendelsohn sich Diplom-In-
*- genieur. Der Titel klingt für Architekten etwas schnurrig,
obwohl er landesüblich ist. Auf Mendelsohns Eigenart aber
paßt er nicht übel. Dieser Berliner baut so, daß man ihn
einen Bauingenieur nennen möchte. Baumeister im höchsten
künstlerischen Sinne gibt es heute überhaupt nicht mehr,
kann es nicht mehr geben. Die Summe der Bauerfahrungen
ist heute sehr groß, das Geniale aber tritt schon seit langer
Zeit nicht mehr hinzu. Etwas anderes nimmt teil, etwas Be-
wußtes, Wissenschaftliches. Und dieses eben wird durch das
Wort Bauingenieur bezeichnet. Das Wort deutet auf das
Konstruktive, Rechnende, Gedankliche und Kollektivistische,
auf das, was im neuen Bauen großstädtisch ist, was darin
befreit ist von Kunstgewerblichkeit und Stilnachahmung, und
was darauf aus ist, dem Ingenieurmäßigen, dem sich indu-
striealisierenden Bauwesen neue künstlerische Gestaltung
und Materialwirkung abzugewinnen. Mendelsohn steht in
der vordersten Reihe derer, die alle Konsequenzen ziehen.
Er kennt Amerika und Rußland aus eigener Anschauung und
sucht eine Mitte, die kein Kompromiß ist. Seine Bauformen
singen und klingen wenig; sie reden Prosa und betonen
das Rationelle. Aber mit einer gewissen Emphase. Oft nei-
gen sie einem kühlen Pathos zu, jener Monumentalromantik,
die bei den Deutschen nun einmal nicht ausstirbt und die
es macht, daß die meisten unserer Architekten in wörtlicher
Bedeutung zu hoch hinaus wollen. Dieses Pathos weiß Mendel-
sohn aber von Jahr zu Jahr besser zu bändigen, es wird immer
fester eingeschlossen und strenger versachlicht von den kon-
struktiven Eisenbalken des Gerüsts.
Mendelsohn begann mit Entwürfen auf Papier, mit Ideen
großer moderner Bauten, die gezeichnet fast wie Buch-
ornamente aussahen. Neulich waren in der Galerie Neumann-
Nierendorf viele dieser Zeichnungen neben großen Bau-
modellen ausgestellt. Wieder wurde es deutlich, wie stark
Mendelsohn in diesen frühen Entwürfen von Henry van de
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