Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 26.1928
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Heft 11
DOI Artikel:Behrendt, Walter Curt: Vom neuen Bauen, [2]: die Stilbewegung
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diesem Sinne kann man von ihnen sagen, daß sie
ingenieurmäßig gedacht und gestaltet sind. Die
Errungenschaften der modernen Technik werden
hier zu Formen gestaltet, „die zwar mitunter eine
Versachlichung im Materiellen bedeuten, trotzdem
aber ihre rein geistige Herkunft dokumentieren".*
Die so gewonnenen Formen sind von einer gene-
rell neuen Wesensart, auf die die überkommenen
ArchitekturbegrifFe nicht mehr passen. Man mag
im übrigen die neue Architektur nach dem äuße-
ren Bilde, in dem sie erscheint, kubistisch, oder
nach ihrem geistigen Ursprung funktionell oder
dynamisch nennen, fest steht in jedem Falle, daß
sie antiklassizistischen Geistes ist. Charakteristisch
ist die Einheitlichkeit dieses Geistes und die Uber-
einstimmung der neuen Architekturformen mit
den übrigen Gestaltbildungen, die wir schlechthin
als „Formen unserer Zeit" empfinden, so daß man
* Walter Strich, Bemerkungen zum Begriff des Expres-
sionismus in der Architektur. Die Dioskuren, Jahrbuch für
Geisteswissenschaften. 2. Band. München 1923.
in der Tat berechtigt ist, von einem Zeitstil zu
sprechen.
Die Umwandlung und Neubildung der archi-
tektonischen Formensprache, die sich gegenwärtig
unter dem Einfluß der Stilbewegung vollzieht,
ist, wie jede Sprachbildung, ein überpersön-
licher Vorgang: diese neuentstehende Formen-
sprache ist nicht das Werk einzelner, sondern die
anonyme Schöpfung eines umfassenden Gemein-
schaftswillens. Als Früchte dieses Gemeinschafts-
willens entstehen heute allenthalben neue Form-
elemente, Typen ohne betont persönlichen Ge-
halt. Die neue Baukunst ist daher im gegen-
wärtigen Stadium ihrer Entwicklung auch weniger
von selten der individuellen Leistung zu betrach-
ten und zu bewerten als von seiten des Form-
und Stilproblems. Die gegenwärtige Leistung der
Stilbewegung gipfelt darin, daß sie die Grundlage
geschaffen hat für die allgemeine Erkenntnis dieses
Problems und daß es unter ihrem Einfluß heute
Allgemeingut zu werden beginnt.
OTTO HAESLER, VOLKSSCHULE IN CELLE
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ingenieurmäßig gedacht und gestaltet sind. Die
Errungenschaften der modernen Technik werden
hier zu Formen gestaltet, „die zwar mitunter eine
Versachlichung im Materiellen bedeuten, trotzdem
aber ihre rein geistige Herkunft dokumentieren".*
Die so gewonnenen Formen sind von einer gene-
rell neuen Wesensart, auf die die überkommenen
ArchitekturbegrifFe nicht mehr passen. Man mag
im übrigen die neue Architektur nach dem äuße-
ren Bilde, in dem sie erscheint, kubistisch, oder
nach ihrem geistigen Ursprung funktionell oder
dynamisch nennen, fest steht in jedem Falle, daß
sie antiklassizistischen Geistes ist. Charakteristisch
ist die Einheitlichkeit dieses Geistes und die Uber-
einstimmung der neuen Architekturformen mit
den übrigen Gestaltbildungen, die wir schlechthin
als „Formen unserer Zeit" empfinden, so daß man
* Walter Strich, Bemerkungen zum Begriff des Expres-
sionismus in der Architektur. Die Dioskuren, Jahrbuch für
Geisteswissenschaften. 2. Band. München 1923.
in der Tat berechtigt ist, von einem Zeitstil zu
sprechen.
Die Umwandlung und Neubildung der archi-
tektonischen Formensprache, die sich gegenwärtig
unter dem Einfluß der Stilbewegung vollzieht,
ist, wie jede Sprachbildung, ein überpersön-
licher Vorgang: diese neuentstehende Formen-
sprache ist nicht das Werk einzelner, sondern die
anonyme Schöpfung eines umfassenden Gemein-
schaftswillens. Als Früchte dieses Gemeinschafts-
willens entstehen heute allenthalben neue Form-
elemente, Typen ohne betont persönlichen Ge-
halt. Die neue Baukunst ist daher im gegen-
wärtigen Stadium ihrer Entwicklung auch weniger
von selten der individuellen Leistung zu betrach-
ten und zu bewerten als von seiten des Form-
und Stilproblems. Die gegenwärtige Leistung der
Stilbewegung gipfelt darin, daß sie die Grundlage
geschaffen hat für die allgemeine Erkenntnis dieses
Problems und daß es unter ihrem Einfluß heute
Allgemeingut zu werden beginnt.
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