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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 27.1916

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Kasseler Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.6189#0007

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KUNSTCHRONIK

Neue Folge. XXVII. Jahrgang 1915/1916 Nr. 1. 1. Oktober 1915

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 6 Mark.
Man abonniert bei jeder Buchhandlung, beim Verlage oder bei der Post. Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden,
leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Oewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann, Leipzig, Hospitalstr. 11 a.
Abonnenten der Zeitschrift für bildende Kunst erhalten Kunstchronik und Kunstmarkt kostenfrei. Anzeigen 30 Pf. die Petitzeile; Vorzugsplätze teurer.

KASSELER BRIEF

Im Sommer vergangenen Jahres, bei Ausbruch
des Krieges, konnte man in dem kleinen Kreise derer,
die sich ernsthaft für Kunst interessieren, die Mei-
nung vertreten hören, daß während der Kriegs-
dauer für künstlerische Fragen kein Interesse zu finden
sein würde; daher hätte es keinen Zweck, die Kunst-
sammlungen offen zu halten oder gar im Kunstverein
Ausstellungen zu veranstalten. Die Vertretung einer
gegenteiligen Ansicht wurde mit der Frage beant-
wortet, wer in so ernster Zeit Oedanken oder Geld
für Kunst übrig haben würde?

Die Tatsachen haben gelehrt, daß die so denkende
Mehrheit unrecht gehabt hat. Was die Gemälde-
galerie angeht, die, von wenigen Wochen des August
1914 abgesehen, dauernd zu den üblichen Stunden
geöffnet blieb, so bot wohl die Besucherschar ein
verändertes Bild; es fehlten natürlich die sonst häufig
anzutreffenden Besucher des Auslandes. Dafür be-
gegnete man einem kaum verminderten deutschen
Publikum und durfte mit Genugtuung feststellen,
wie die Feldgrauen, ob hier eingezogene und in Aus-
bildung begriffene Truppen, ob auf der Durchreise
befindliche Soldaten oder Verwundete, mit sichtlicher
Freude jede Gelegenheit wahrnahmen, von einer stür-
misch bewegten Gegenwart sich in eine künstlerisch
festgehaltene Vergangenheit zurückversetzen zu lassen.
Auch die von verschiedenen Seiten unternommenen
Galerieführungen für die Rekonvaleszenten haben stets
dankbarsten Zuspruch gefunden.

Mit einiger Sorge mußte man sich aber fragen,
wie sich das Los der hiesigen Künstlerschaft gestalten
würde. Nur wenige unter der ziffernmäßig nicht un-
beträchtlichen Schar (rund etwa einhundert) waren
durch staatliche Anstellung einigermaßen sicherge-
stellt, die überwiegende Mehrzahl auf Verdienst an-
gewiesen; und dieser gestaltete sich auch in Friedens-
zeiten kärglich genug. Es galt, bei dieser Sachlage
einen Kreis von Gönnern zu gewinnen, die bereit
sein würden, wirklicher Notlage steuern zu helfen.
In der Erkenntnis, daß es sich hier um eine unbedingt
dringliche Aufgabe handelte, stellten sich die drei maß-
gebenden Vertreter von Regierung, Stadt und Kunst
— der Oberpräsident, der Oberbürgermeister und der
Akademiedirektor — an die Spitze einer Bewegung,
die bezweckte, die Namen dieser Gönner festzustellen.
Eine öffentliche Versammlung im Rathaus ging voran,
ein in den in Betracht kommenden Kreisen verbreiteter
Aufruf folgte; die Aufforderung ging dahin, es sollten
Personen, die gegebenenfalls zum Ankauf von Kunst-
werken bereit sein würden, dies durch Abgabe ihrer
Unterschrift bekunden, ohne daß irgend eine Zwangs-
verpfhchtung damit verbunden sein sollte. Auf diese

Weise wurden etwa 60 der angesehensten Einwohner
rein ideell verpflichtet, und sie haben, darf hinzu-
gefügt werden, wenn an sie die Bitte erging, etwas
zu tun, ohne Zögern sich dazu bereit gefunden.

Am 1. September vorigen Jahres eröffnete der
Kunstverein, nach den üblichen Sommerferien, die nur
um vierzehn Tage verlängert wurden, seine Räume
und brachte im Wechsel von zwei bis drei Wochen
ausschließlich Arbeiten hiesiger, bzw. in Kurhessen
wohnhafter Künstler: zunächst Sammelausstellungen,
dann auf Wunsch der Künstlerschaft Kollektionen
einzelner. Der Kunstverein, in der Absicht, möglichst
weite Kreise für diese Veranstaltungen zu interessieren,
nahm von dem Erheben des Eintrittsgeldes Abstand
und verzichtete auf die übliche Verkaufsgebühr; es
sollte, was einkam, den Künstlern ungeschmälert zu-
gute kommen. Dafür wurde darauf hingewirkt, daß
die nicht selten und nicht ganz zu Unrecht beklagten
Phantasiepreise fortfielen, die Künstler vielmehr durch-
gängig bescheidene Forderungen aufstellten, an denen
dann aber fast ausnahmslos festgehalten wurde, während
sonst das Handeln und Feilschen zu den unerfreu-
lichsten Erscheinungen im Kunstvereinsleben zählt.

Der Erfolg dieser Veranstaltungen, die zunächst
bis Ende April dauerten, war über alle Erwartungen
groß: es wurden durch Vermittlung des Kunstvereins
in dieser Zeit für rund 36 500 Mark Kunstwerke ver-
kauft, wobei die Stadt mit etwa 4000, der Kunst verein
selbst mit etwa 5000 Mark beteiligt ist; die Haupt-
summe entfällt auf fast ausschließlich Kasselaner Privat-
käufer. Rechnet man hierzu, was an Aufträgen und
Käufen, zwar im Zusammenhang mit dem Kunstverein,
aber ohne dessen Vermittlung erfolgt ist, sowie die
Summe von 8000 Mark, für welche der hiesige Be-
amtenverein zu einer für Kriegswohlfahrtszwecke be-
stimmten Verlosung Kunstwerke von hiesigen Künstlern
erwarb, so darf man sagen, daß seit Kriegsausbruch
bis jetzt, d. h. in genau einem Jahr, hier mehr als
50000 Mark für Kunstsachen ausgegeben worden sind.
Im Gegensatz zu allen geäußerten Befürchtungen war
es ein — an früheren Jahren gemessen — besonders
günstiges Jahr.

Aber auch sonst wurde der Beweis geboten, daß
an einen Stillstand in künstlerischen Dingen nicht zu
denken ist. Die Stadt Kassel, die seit 1913 eine vor-
läufig bescheidene Summe in ihren Etat für Kunst-
ankäufe eingesetzt hat, die im Rathaus Aufstellung
finden, hat auch in dieser Zeit diesen Posten nicht
abgesetzt, wie dies leider hier und da geschehen ist.
Unter den letzten städtischen Erwerbungen befindet
sich ein »Mädchen in Abendmahlstracht« von W. Thiel-
mann, ein vornehm, wesentlich in schwarz und weiß
gehaltenes Gem,älde, das zu den besten Werken zeit-
 
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