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Dresdner Brief
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DRESDNER BRIEF
An der Königlichen Kunstakademie sind jetzt meh-
rere Stellen zu besetzen: Gotthardt Kuehl ist gestorben,
seine Stelle als Leiter eines akademischen Ateliers er-
hielt der Dresdner Robert Sterl, der vorher den Mal-
saal leitete. Dadurch ist aber Sterls Stelle frei-
geworden, außerdem ist, wie bekannt, Herrmann Prell
in den Ruhestand getreten, auch German Bestelmeyer
hat mit seinem Weggang nach Berlin seine Stellung
als Vorstand des Ateliers für akademische Baukunst
aufgegeben. Endlich ist seit langen Jahren das Atelier
für graphische Kunst an der Akademie unbesetzt ge-
blieben. Also drei bis vier freie Stellen! Sie zu be-
setzen, hat zwar während des Krieges keine sonder-
liche Eile, wenigstens wenn man die Lehrtätigkeit der
akademischen Professoren in Betracht zieht, denn die
meisten Schüler sind in den Krieg gezogen, und nur
wenige sind daheim geblieben. Aber immerhin:
Dresdens Stellung nach außen leidet, wenn wir nicht
wenigstens Anstalten treffen, die Lücken wieder zu
ergänzen.
Am wenigsten tut es not, das Atelier für Archi-
tektur wieder zu besetzen, denn Gelegenheit zur künst-
lerischen Ausbildung gibt es für Architekten zur
Genüge, auch gibt es in Dresden eine völlig ge-
nügende Anzahl hervorragender Architekten, während
an Gelegenheit zu ihrer Betätigung keinerlei Überfluß
herrscht. Dagegen bedeutet es einen wirklichen Mangel,
daß an einer Kunstakademie wie der Dresdner kein
Lehrstuhl für graphische Kunst vorhanden ist, wie
dies ehedem der Fall war. Der Hinweis auf die
Leipziger Akademie schafft diesen Mangel nicht aus der
Welt. Vielleicht wird jetzt die Gelegenheit ergriffen,
den ehemaligen Lehrstuhl wieder zu besetzen.
Für die Wiederbesetzung der Lehrstühle der Malerei
sind mannigfache Stimmungen vorhanden. Der Ber-
liner Slevogt, von dem bei dieser Gelegenheit
21 Gemälde in die Dresdner Galerie übergingen, hat
den Ruf als Ateliervorstand darnach abgelehnt. Nun-
mehr ist Stimmung für Lovis Corinth vorhanden,
indes ist es zweifelhaft, ob seine derbe sinnliche
Malerei in Dresden den gewünschten Anklang findet,
ob es gut tun würde, unter die Künstler der Aka-
demie, jetzt durchweg Mittel- und Süddeutsche sowie
Österreicher, einen so ausgesprochenen Norddeutschen
zu versetzen. Allerdings würde die Dresdner Kunst
durch Corinth wieder ein charakteristisches Gesicht
erhalten. Das erhielte sie aber auch durch Otto
Hettner, dessen gegenwärtige Gesamtausstellung im
Sächsischen Kunstverein die Teilnahme der Kunst-
freunde in hohem Maße zu gewinnen vermocht hat.
Er ist ein entschieden moderner Künstler, ebenso
reich an künstlerischen Ideen nach der Seite der
Phantasie wie der malerischen Wiedergabe, von
frischem, kraftvollem Vorwärtsstreben beseelt und ein
Künstler, der das künstlerische Wollen unserer Zeit
zu starkem persönlichem Ausdruck zusammenzufassen
weiß.
Zeigte das letzte große Gemälde, das er in Dresden
ausstellte, nämlich die Niobiden von Apollo und Artemis
mit Pfeilschüssen verfolgt, den energisch angestrebten
aber naturgemäß nicht befriedigenden Versuch, monu-
mentale Wirkungen mit Hilfe des formenauflösenden
Impressionismus zu erreichen, gewissermaßen den Kampf
der Waffen und der Leidenschaften durch den Kampf
von Licht und Luft mit den Formen wiederzugeben,
so ist Hettner jetzt zu einem weit bestimmteren Stil
gelangt, der die Formen kräftiger zur Geltung bringt,
ohne dabei auf neu gewonnene malerische Hilfsmittel
zu verzichten. Das Hauptstück der Ausstellung ist
oder war der große Karton zu der Sintflut, den Otto
Hettner als Freskogemälde im Museum zu Stettin aus-
zuführen sich soeben anschickt. In erschütternder Weise
schildert der Künstler den Kampf der Menschheit gegen
die unentrinnbare Naturgewalt. In einem Teilbilde
gibt er durch einen genial erschauten Einzelvorfall das
Geschick derganzen.demUntergangegeweihten Mensch-
heit überzeugend wieder. Ein einsamer Felsen ragt
noch aus der unabsehbaren Flut empor. Ein Floß
mit Menschen drängt sich, von kraftvoller Männer-
hand getrieben, in die kleine Bucht hinein, die das
Felseneiland bildet; die Menschen, die auf dem Felsen
schon eine Zuflucht gefunden haben, müssen eilends
flüchten, um nicht zwischen Floß und Felswand zer-
quetscht zu werden. So ergibt sich ein doppelter An-
trieb für das Bild: das Verweilen auf dem Zufluchts-
ort vor der schwellenden und andrängenden Flut und
die Bewegung, die mit dem Floß in die Menschheit
hineinkommt. Die ganze Stufenleiter von Empfin-
dungen, Leidenschaften und entsprechenden Bewe-
gungen tritt uns in kräftigstem, lebendigstem Ausdruck
vor Augen: das vorwärts dringende Floß mit dem
vom Sturm geblähten Segel, der Recke, der es mit
dem Staken lenkt, und zwei aufbäumende Pferde, das
Paar, das einen Kranken wegträgt, der Mann, der
eine Frau auf die Schulter genommen hat, die Empor-
kletternden, der wütend die Eindringlinge Anschreiende,
die verzweifelt vor sich Hinstierenden, die in dumpfer
Erschöpfung auf dem Felsen Liegenden, dazu die dumpfe
schwere Stimmung der Flut und des Himmels — all das
zusammen ergibt ein Bild des Furchtbaren, des ohnmäch-
tigen Kampfes der Menschheit gegen die Naturgewalt,
wie man es sich nicht wirksamer vorstellen kann. Ohne
jeden Zwang ist durch das Floß, das sich quer von
links oben nach rechts unten hineinschiebt, Übersicht
und Ordnung in das Durcheinander der Gestalten
gebracht, die düstere Stimmung und der Wille zum
Leben als Antrieb für sämtliche Gestalten ergibt eine
feste innere wie äußere Einheit. So hat der Künstler
dem uralten Vorwurf eine neue gewaltige Gestalt
gegeben. Mit sicherer Kraft sind dabei die Formen
des nackten Menschen herausgearbeitet; der rötlich-
braune Ton soll bei der Ausführung auf dem nassen
Kalk stärkerem farbigem Leben weichen.
Noch einige andere monumentale Entwürfe hat
Hettner ausgestellt: solche zu einem Pavillon in der
Kölner Werkbund-Ausstellung, zu einer Achteckhalle
mit mehreren Türen, die in die Bildfläche einschneiden,
ein Dreitafelbild Am Meer, den farbigen Karton zu
dem Stettiner Fresko Mutter und Kind. Dazu einige
Tafelbilder: Dante und Virgil im Fegefeuer, der heilige
Dresdner Brief
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DRESDNER BRIEF
An der Königlichen Kunstakademie sind jetzt meh-
rere Stellen zu besetzen: Gotthardt Kuehl ist gestorben,
seine Stelle als Leiter eines akademischen Ateliers er-
hielt der Dresdner Robert Sterl, der vorher den Mal-
saal leitete. Dadurch ist aber Sterls Stelle frei-
geworden, außerdem ist, wie bekannt, Herrmann Prell
in den Ruhestand getreten, auch German Bestelmeyer
hat mit seinem Weggang nach Berlin seine Stellung
als Vorstand des Ateliers für akademische Baukunst
aufgegeben. Endlich ist seit langen Jahren das Atelier
für graphische Kunst an der Akademie unbesetzt ge-
blieben. Also drei bis vier freie Stellen! Sie zu be-
setzen, hat zwar während des Krieges keine sonder-
liche Eile, wenigstens wenn man die Lehrtätigkeit der
akademischen Professoren in Betracht zieht, denn die
meisten Schüler sind in den Krieg gezogen, und nur
wenige sind daheim geblieben. Aber immerhin:
Dresdens Stellung nach außen leidet, wenn wir nicht
wenigstens Anstalten treffen, die Lücken wieder zu
ergänzen.
Am wenigsten tut es not, das Atelier für Archi-
tektur wieder zu besetzen, denn Gelegenheit zur künst-
lerischen Ausbildung gibt es für Architekten zur
Genüge, auch gibt es in Dresden eine völlig ge-
nügende Anzahl hervorragender Architekten, während
an Gelegenheit zu ihrer Betätigung keinerlei Überfluß
herrscht. Dagegen bedeutet es einen wirklichen Mangel,
daß an einer Kunstakademie wie der Dresdner kein
Lehrstuhl für graphische Kunst vorhanden ist, wie
dies ehedem der Fall war. Der Hinweis auf die
Leipziger Akademie schafft diesen Mangel nicht aus der
Welt. Vielleicht wird jetzt die Gelegenheit ergriffen,
den ehemaligen Lehrstuhl wieder zu besetzen.
Für die Wiederbesetzung der Lehrstühle der Malerei
sind mannigfache Stimmungen vorhanden. Der Ber-
liner Slevogt, von dem bei dieser Gelegenheit
21 Gemälde in die Dresdner Galerie übergingen, hat
den Ruf als Ateliervorstand darnach abgelehnt. Nun-
mehr ist Stimmung für Lovis Corinth vorhanden,
indes ist es zweifelhaft, ob seine derbe sinnliche
Malerei in Dresden den gewünschten Anklang findet,
ob es gut tun würde, unter die Künstler der Aka-
demie, jetzt durchweg Mittel- und Süddeutsche sowie
Österreicher, einen so ausgesprochenen Norddeutschen
zu versetzen. Allerdings würde die Dresdner Kunst
durch Corinth wieder ein charakteristisches Gesicht
erhalten. Das erhielte sie aber auch durch Otto
Hettner, dessen gegenwärtige Gesamtausstellung im
Sächsischen Kunstverein die Teilnahme der Kunst-
freunde in hohem Maße zu gewinnen vermocht hat.
Er ist ein entschieden moderner Künstler, ebenso
reich an künstlerischen Ideen nach der Seite der
Phantasie wie der malerischen Wiedergabe, von
frischem, kraftvollem Vorwärtsstreben beseelt und ein
Künstler, der das künstlerische Wollen unserer Zeit
zu starkem persönlichem Ausdruck zusammenzufassen
weiß.
Zeigte das letzte große Gemälde, das er in Dresden
ausstellte, nämlich die Niobiden von Apollo und Artemis
mit Pfeilschüssen verfolgt, den energisch angestrebten
aber naturgemäß nicht befriedigenden Versuch, monu-
mentale Wirkungen mit Hilfe des formenauflösenden
Impressionismus zu erreichen, gewissermaßen den Kampf
der Waffen und der Leidenschaften durch den Kampf
von Licht und Luft mit den Formen wiederzugeben,
so ist Hettner jetzt zu einem weit bestimmteren Stil
gelangt, der die Formen kräftiger zur Geltung bringt,
ohne dabei auf neu gewonnene malerische Hilfsmittel
zu verzichten. Das Hauptstück der Ausstellung ist
oder war der große Karton zu der Sintflut, den Otto
Hettner als Freskogemälde im Museum zu Stettin aus-
zuführen sich soeben anschickt. In erschütternder Weise
schildert der Künstler den Kampf der Menschheit gegen
die unentrinnbare Naturgewalt. In einem Teilbilde
gibt er durch einen genial erschauten Einzelvorfall das
Geschick derganzen.demUntergangegeweihten Mensch-
heit überzeugend wieder. Ein einsamer Felsen ragt
noch aus der unabsehbaren Flut empor. Ein Floß
mit Menschen drängt sich, von kraftvoller Männer-
hand getrieben, in die kleine Bucht hinein, die das
Felseneiland bildet; die Menschen, die auf dem Felsen
schon eine Zuflucht gefunden haben, müssen eilends
flüchten, um nicht zwischen Floß und Felswand zer-
quetscht zu werden. So ergibt sich ein doppelter An-
trieb für das Bild: das Verweilen auf dem Zufluchts-
ort vor der schwellenden und andrängenden Flut und
die Bewegung, die mit dem Floß in die Menschheit
hineinkommt. Die ganze Stufenleiter von Empfin-
dungen, Leidenschaften und entsprechenden Bewe-
gungen tritt uns in kräftigstem, lebendigstem Ausdruck
vor Augen: das vorwärts dringende Floß mit dem
vom Sturm geblähten Segel, der Recke, der es mit
dem Staken lenkt, und zwei aufbäumende Pferde, das
Paar, das einen Kranken wegträgt, der Mann, der
eine Frau auf die Schulter genommen hat, die Empor-
kletternden, der wütend die Eindringlinge Anschreiende,
die verzweifelt vor sich Hinstierenden, die in dumpfer
Erschöpfung auf dem Felsen Liegenden, dazu die dumpfe
schwere Stimmung der Flut und des Himmels — all das
zusammen ergibt ein Bild des Furchtbaren, des ohnmäch-
tigen Kampfes der Menschheit gegen die Naturgewalt,
wie man es sich nicht wirksamer vorstellen kann. Ohne
jeden Zwang ist durch das Floß, das sich quer von
links oben nach rechts unten hineinschiebt, Übersicht
und Ordnung in das Durcheinander der Gestalten
gebracht, die düstere Stimmung und der Wille zum
Leben als Antrieb für sämtliche Gestalten ergibt eine
feste innere wie äußere Einheit. So hat der Künstler
dem uralten Vorwurf eine neue gewaltige Gestalt
gegeben. Mit sicherer Kraft sind dabei die Formen
des nackten Menschen herausgearbeitet; der rötlich-
braune Ton soll bei der Ausführung auf dem nassen
Kalk stärkerem farbigem Leben weichen.
Noch einige andere monumentale Entwürfe hat
Hettner ausgestellt: solche zu einem Pavillon in der
Kölner Werkbund-Ausstellung, zu einer Achteckhalle
mit mehreren Türen, die in die Bildfläche einschneiden,
ein Dreitafelbild Am Meer, den farbigen Karton zu
dem Stettiner Fresko Mutter und Kind. Dazu einige
Tafelbilder: Dante und Virgil im Fegefeuer, der heilige