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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 2.1886-1887

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Leixner, Otto von: Berechtigung und Grenzen des Realismus: eine Untersuchung
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von Vtto von Leirner

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keit, vorzustellen, also iunerlich zu schauen, nicht loslösen. Menzel, als er den „Hofball" schuf und
Kaulbach, als er an der „Hunnenschlacht" arbeitete, stehen darin sich vollkommen gleich. Jeder erfaßte den
Stoff innerlich, jeder erwog das Ganze und die einzelnen Teile, ordnete Licht nnd Farben an, kurz, sah das
Werk als Vorstellung mit Hilse der Einbildungskraft an, ehe er es gestaltete. So verschieden beide sein
mögen, weder konnte der eine ohne Leitbild (Jdeal), noch ohne Wirklichkeit, ohne das Reale, der andere aus-
kommen. Jeder belebte den Stoff mit seinem eigenen Wesen, sah ihn mit seinen geistigen Augen an, und
in seiner Art ist das Bild Menzels ebenso eine idealistische Schöpfung, d. h. in jedem Teile vom Geist erfüllt, wie
das Werk Kaulbachs, eine realistische, d. h. trotz des der Alltagswirklichkeit widersprechenden Stoffes mit Wirk-
lichkeitssinn gestaltet und in höherem Sinne natürlich.
Nun ist noch eine Thatsache zu beachten. Was immer dem Maler oder Bildhauer als Stoff vor-
schweben möge, sei es ein innerlich geschautes Bild, oder ein Gedanke, welcher erst zum Bilde werden muß,
in allen Fällen gibt es für sie nur ein Mittel, das Jnnere zu versinnlichen: sie müssen sich der Formen
d er Wirklichkeit bedienen. Es ist dabei ganz gleich, ob man die Erscheinungen derselben als Ganzes wiedergibt,
oder sich aus Teilen derselben ein neues nicht unmittelbar bestehendes Ganze mit Hilfe der Einbildungskraft
schaffe. Selbst Schöpfungen in der Art von Böcklins Halbmenschen müssen in ihrer Weise mit Wirklichkeits-
sinn erfaßt werden, um im Reiche der Kunst lebendig zu wirken, künstlerische Wahrheit zu zeigen. Niemals
hat Michelangelo im Lebcn jenen Ausdruck gesehen, welchen er seinem Christns des Weltgerichts verliehen,
schwerlich Mnrillo die Verzücktheit, die aus manchem seiner Heiligen spricht, nie Raffael ein so göttliches Kind,
wie jenes der Dresdener Madonna. Diese Gestalten sind, innerlich geschaut, ganz aus der Vorstellung
hervorgegangen, aber soweit sie die Wirklichkeit überragen mögen, so erscheinen sie uns wahr, weil sich das
„Jdeale", ohne sich zu verlieren, in ein „Reales" gekleidet hat.
Es hat sich bisher gezeigt, daß jeder echte Künstler, in welches Fach ihn auch die Sucht zu ordnen
hineinlegen möge, weder der „Jdee" noch der „Natnr" entraten kann. Jn dieser Art wird es auch klar, daß
die Scheidung zwischen Realisten nnd Jdealisten, wie man sie gewöhnlich übt, jeder tieferen Berechtigung ent-
behre. Der echte Künstler hat einfach im höheren Sinne wahr zu sein, der Geist muß alle Teile der
Schöpfung beleben, die „Vorstellung" sich bis in das Kleinste ausprägen. Ob Defregger auf seinem „Ball
auf der Alm" uns naturwüchsige Gestalten des Volkes in heiterem Lebensgenusse darstelle, Harburger einen
Münchener Spießbürger, welcher im Hofbräu den Höhepunkt menschlicher Erfindungsgabe verehrt, ob G. Max
eine „Astarte" schaffe, oder Michelangelo den weltschaffenden Gott: alle müssen wahr sein, d. h. den Be-
schauer zwingen können, daß er an das Vorgestellte glaube. Ein Künstler, welcher diesen Glauben nicht in
ursprünglicher Kraft erwecken kann, ist nur ein Knnstspieler.
Nun scheint es, als ließe sich leicht eine Trennung der sog. idealistischen von den realistischen Künstlern
erreichen, wenn man sagt, dem ersten sei es um Schönheit, dem zweiten mehr nm scharfe Kennzeichnung zn thun.
Aber auch hier zeigt strengeres Denken bald die Unzulänglichkeit dieser Anschauung. Wenn ein
echter Künstler lebendige Schönheit darstellen will, kann er dann die Charakteristik entbehren? Die Venus von
Melos ist gewiß „schön", wer aber wollte behaupten, daß ihr eigenartiges Leben abgehe? Und wenu ein
„Realist" ohne Vornrteile die Welt geben will, kann er ein blühendes, makelloses Kind, eine Jungfrau aus der
Höhe ihrer Entwicklung, das regelmäßig geschnittene Antlitz eines geistig lebendigen Mannes, kann er eine
sonnenüberstrahlte Landschaft wiedergeben, wenn er die Schönheit verneint? Will er wahr sein im oben
gezeichneten Sinne, so muß er ebenso diese erfassen können, wie der „Jdealist" die Eigenart, d. h. jene Züge,
welche das Äußere als den Widerschein, als das Gleiche des Jnnern erkennen lassen.
Von den beiden Bestandteilen der Wahrheit, nämlich Eigenart und Schönheit, können irrtümliche
Strebungen ausgehen. Wenn der sog. Realist so weit geht, daß er im steten Ringen nach Wiedergabe des
Kennzeichnenden zur einseitigen Pflege des Häßlichen gelangt, so verneint er den anderen Teil der Wahrheit,
welcher uns eben als Schönheit sich offenbart und er wird zum Zerrbild gelangen. Sieht dagegen der
„Jdealist" einseitig nur die Schönheit, so kommt er zur Pslege der leeren Linien und Formen, zur leblosen
Schablone. Beide lügen und die Lüge vernichtet die echte Knnst.
Wir sehen, daß dem Kunstschaffen gegenüber die Trennung der beiden Begriffe sich als eine vom
Verstande künstlich erzeugte darstellt, und daß sich in Wahrheit beide Anschauungen bei dem echten Künstler
auf das innigste verbinden.
Die Berechtignng des Realismus zu läugnen, ist sür den Ästhetiker undenkbar, weil es denkwidrig
ist; ihn als einzig berechtigt darzustellen gleichfalls, weil es in der echten Kunst das, was man gemeinhin
„Realismus" nennt, gar nicht geben kann.
Nun aber ists unleugbar, daß man die zwei Ausdrücke in vielen Fällen mit Berechtigung anwendet.
Darum mnß es auch in gewissem Sinne eine Grenzscheide beider Begriffe geben.
Wenn wir z. B. ein Bild von irgend einem Niederländer betrachten, welches einen Auftritt des
Alltagslebens wiedergibt, so empfinden wir sogleich, daß sich der Künstler damit an jene nnserer Vorstellungen
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