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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 2.1886-1887

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Heilbut, Emil: Studie über den Naturalismus und Max Liebermann, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9417#0271

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ll. Iahrgang. Left ;4

April;Z57


--W Kevcrusgegeben von Ivieövich 'Decht W—

,Lie Kunst für Alle" erscheint iir halbmonatlichen Hesten voil 2 Bogeu rcich illustrierteii Tcxtcs und ca. 4 Bilderbeilagcn in Umschlag. AbonnementSpreiz iin
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Studie üdrr de:r Raturalrsurus und Man Lredrrnrann
Uon Herman Belferich

^Tjsu einem Roman von Zola geheu zwei Männer auf-
rührerischer Gedanken voll jeder für sich, im weichen
Grase am Rande eines Kanales hin, bei Abend und Dun-
kelheit. Einander nahe gekommen, sehen sie sich an, über-
rascht jemandem auf diesem einsamen Terrain zu begegnen,
erkennen einander im Zwielicht als Genossen, Etienne und
Snwarin, die beide Revolutionäre sind, und gehen
jetzt gemeinschaftlich den Weg. Für alle beide zeigt
sich, daß jeder von ihnen, ohne es vom andern gewnßt
zn haben, von allen Spazierwegen diesen Weg am
liebsten hatte, der am Rande des Kanals in schnurgerader
Richtung, senkrechte Banmstämme zur Seite, mehrere
Meilen weit entlang lief — in der Tiefe des Kanals
schimmerte das Wasser gleich einem geschmolzenen Silber-
barren, so regelmäßig abgezirkelt, so geometrijch parallel
waren die Ufer.
Zola, indem er diesen beiden den Geschmack an solcher
Simplizität der Landschaft unterschiebt, setzte ein gemein-
sames Fühlen voraus bei den Naturen, die das Gepräge
einer neuen Zeit, die Quintessenz ihres Wesens am mar-
kantesten aufweisen.
Wie diese Etienne nnd Suwarin, Sozialisten nnd
Nihilisten, Ikeigung für die unnivellierteste Gegend haben,
so ist der Geschmack an ihren geraden Linien, die dem
sinnlichen Wohlgefallen so entgegen sind, offen zu Tage
getreten nud zu künstlerischem Ansdruck gebracht, bei einer
nicht durch die Zahl, aber durch das Wesen bedeutenden
Künstlergruppe von eminenter Modernität.
Jhre Empfänglichkeit reizt die Monotonie des Flach-
landes, mit niedrigen einzeln stehenden Häusern, gedrückten
Menschen, die in die Landschaft gemischt sind, Pfützen
darin, die des Himmels Glanz schmutzig spiegeln, Wegen,
die wie eine Schnur hindnrchführen, in der Ferne sich
verlieren im Dunkel, im Ungewissen, vag, trübe, trostlos,
leer, unendlich . . . Fern haben diese Künstler sich ge-
stellt den Wohnnngen der Reichen, und fern ihren An-
schauungen, fern ihren Tapeten und fern der Möglichkeit,
die Erzeugnisse ihrer Produktion jeinals an den Wänden
der Reichen aufgehängt zu sehen, es sei denn, daß diese
D»e Kunst für Alle II.

Reichen nachgäben und dem neuen Geschmack sich unter-
würfen, und daß sie häßlichen und tristen Farben sich
anbequemten, sie, die bisher angenehme nur und süße
hatten gelten lassen.
Was ist es aber nun — ist zu sragen —- das diese
Etienne- und Suwarintypen und diese Künstler der neuen
Epoche an Gemeinsamem haben?
Über sie gebreitet hat sich das Naturgefühl von
trostlos Trostsuchenden. Die Götterlosigkeit ihrer Zeit, die
sie ani schärfsten formulierten, die sie klar erkannten und
niit dem Verstande vertreten, vermögen sie noch nicht zu
ertragen. Ein Heimweh nach Früherem drückt sie nieder,
nach den paradiesischen Epochen kindlicher und einfacher
Zuftände. Eine immense Traurigkeit hat sie befallen, be-
lastet sie. Sie stehen schwärmerisch anf Seiten der Arnien
und Elenden, gleich als ob die besser wären — und wie
sie denn malerischer sind in ihren Lumpen, sehen jene
etwas, das einem Ersatz gleichkommt für die entschwnndenen
Götter in ihnen. Bei all' ihrer Modernität stellen sie
einen Anachronismus dar: sie sind wiedererstandene
Mystiker. Wenn irgendwer, sind sie die Bkystiker unseres
Jahrhunderts. Der kleinste Winkel, der kleinste Gegen-
stand gibt ihnen die Jnspiration. Sie sind berauscht von
der Schöpfung. Ein Trunkensein vvn dem All, eine an-
betende Religiosität vor der Mntter Natnr in ihren ein-
sachsten Ofsenbarnngen. Jn ihren Jmpnlsen steckt etwas
nicht Ausgereiftes und kein ganz klares Besinnen auf
sich selbst; etwas Ahnnngsvolles, das nur das Gefühl
erfaßt.
Die alte Ästhetik stellt sich fremd zu ihnen. Wie
sollte sie anch nicht, alles Menschliche scheint ihr fremd,
so etwas, meint sie, gab es niemals, sie kann es nicht
denten, sie begreift es nicht und darum verurteilt sie es.
Jn ihrem Kanon steht nichts davon, aber in der Natur
liegt es vor. Ganze Magazine anfgespeicherter Molltöne,
ein ganzes Register von Elementarem. Leises Klingen
in der Lust, merkwürdige Töne, die darin weben. Hörbar
nur dem femsten Ohre, sichtbar für den, der da sieht:
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