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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 8.1892-1893

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Muther, Richard: Alte und neue Kunstgeschichte, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.11054#0249

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Alte und neue Kunstgeschichte.

losen, deren Ursprung festzustellen ist. Es bedarf eines scharfen Blickes, um die Schule und die Gruppe zu
bestimmen und schließlich die Merkmale zu erkennen, die dem Meister eigentümlich sind.

Auf alle diese Schwierigkeiten stößt der Geschichtsschreiber moderner Kunst nicht. Die Maler des
19. Jahrhunderts haben sehr selten vergessen, Name und Datum ihren Werken beizufügen, und ihre Lebens-
verhältnisse sind mit einer Ausführlichkeit erzählt, wie sie früher kaum den ersten historischen Größen zu teil
wurde. Um so schwerer ist es, einem Chaos von Bildern gegenüber das geistige Band zu finden, das alle
umfaßt, aus der reichen Fülle aufgehäufter Baustücke, aus der aufgeschichteten Masse trägen Rohmaterials ein
Gebäude zu konstruieren. Die Entwicklung der modernen Malerei ist komplizierter und vielgestaltiger, als die
der Kunst einer früheren Periode, so wie das moderne Leben selbst vielgestaltiger und komplizierter ist als das
irgend einer früheren Zeit.

Wie ruhig, langsam und stetig ist die Entwicklung jener älteren Perioden verlaufen. Eine wie einfache
Wechselwirkung bestand zwischen der Kunst und dem allgemeinen Kulturleben. Sitte, Lebensansicht und Kunst
waren dergestalt ein Gemeinsames, daß die Kenntnis der Zeit im allgemeinen zugleich die der Kunst mit ein-
schließt. Wenn man vor ein altes Altarwerk der kölnischen Schule tritt, so wird es einem, als stünde man
in einem weiten hohen Dom; alles wird still rings umher und die hehren Gestalten auf den Bildern führen
ihr ruhiges ernstes Dasein in erhabener Größe. Die Lehre des Christentums „Mein Reich ist nicht von dieser
Welt", kommt deutlich auch in der Kunst zum Ausdruck. Demut und Frömmigkeit vereinigen sich zu einer
Feinheit des Gefühlslebens, das an weihevoller Zartheit und holder Naivetät unübertroffen ist. Im 15. Jahr-
hundert, dem Zeitalter der Entdeckungen, kam ein anderer Geist in die Welt. Der Handel und die Schiffahrt
entdeckten neue Welten, die Malerei entdeckte das Leben. Der Geist des Menschen war freier und weltfreudiger
geworden; er gefiel sich nicht mehr in der Sehnsucht nach dem Jenseits allein, er fühlte sich auch heimisch im
Diesseits, in der Herrlichkeit der Erde. Es weht jetzt in den Bildern etwas von der frohen Empfindung, mit
welcher der Städter des 15. Jahrhunderts aus seinen engen Mauern unter Gottes freien Himmel hinaustrat,
etwas von der Osterfeiertagsstimmung im Faust. Noch immer malt man Madonnen und Heilige, Gegenstände
einer Religion, die sich aus dem fernen Osten über das gesamte Abendland verbreitet hatte, aber in der
strengen Einfalt des Himmlischen erwacht allmählich alle Anmut, Schalkhaftigkeit und Energie des Irdischen.
Es ist die erste jungfräuliche Berührung des Geistes mit der Natur. Es ruht über den Werken der erste Tau
vom Morgen des Seelenlebens, sie erinnern an den Waldboden im Frühling. Botticelli — Vau Eyck —
Schongauer.

Nachdem die Italiener im 15. Jahrhundert frische Realisten gewesen, erheben sie sich im 16., dem
Jahrhundert des begeisterten Humanismus, zur Majestät. Die Zeit strengen Ringens mit der überwältigenden
Fülle der Lebenswirklichkeit ist vorüber. Es entstehen jene hohen Meisterwerke, aus denen das mühelos Ge-
wordene in glücklichster Vollendung strahlt. Raffael — Michelangelo — Tizian. Das Wesen der Deutschen
spitzt sich gleichzeitig zum vollen Gegensatz gegenüber den Romanen zu. Sie verschmähen es, durch den Reiz
äußerer Formen sich in die Sinne einzuschmeicheln und wissen dafür durch ihre tiefe Religiosität und innige
Gefühlswärme das Herz zu gewinnen. Sie sind kerndeutsch, charakteristisch bis zur Härte, die im deutschen
Charakter liegt, aber voller Empfindung und Lebenswahrheit. Dürer ist in seinen Holzschnitten und Kupfer-
stichen „inwendig voller Figur", offenbart darin den „versammelten heimlichen Schatz seines Herzens". Holbein
ist groß durch die unübertroffen sachliche Kunst seiner Porträts.

Auf das Jahrhundert des freudig aufblühenden Heidentums, auf die olympische Heiterkeit der
Renaissance folgt das Zeitalter, dem die Jesuiten Stimmung und Charakter gaben. In jene prunkvollen
Kirchen im Jesuitenstil mit ihrem Fortissimo der Wirkung, den dick plastischen Ornamenten und der strahlenden
Goldverzieruug wollte die klassische Ruhe der älteren Meister nicht mehr passen. Es handelte sich um eine
aufregendere, eindringlichere Behandlung der heiligen Gegenstände, worin die ganze Leidenschaft des erneuerten
Katholizismus zum Ausdruck käme. Spanien, das Land der Inquisition, gab diesem gesteigerten religiösen
Gefühl das klassische Gepräge. Hier fand die ganze monarchisch-hierarchische Richtung, die den spanischen Staat
begründet und groß gemacht, auch in der Malerei ihr treues Abbild. Die Maler statteten ihre Kirchenbilder
mit einem glühenden Feuer leidenschaftlicher Inbrunst und einem Anflug schwärmerischer Sinnlichkeit von
national-spanischer Lokalfarbe aus, wie sie sich in der Kunst keiner anderen Zeit und keines anderen Volkes
vereinigt finden. Notwendigerweise zog aber ein solcher Feudalstaat wie der spanische mit seinen Granden und
Kirchenfürsten auch eine Porträtkunst groß, die zu dem Höchsten zählt, was irgend ein Land auf diesem Gebiete
hervorgebracht. Murillo — Velazquez. In Flandern, dem zweiten Heimatlande der Jesuiten, lebt der Riese
Rubens. Ein fleischfroher Vlaame, packt er die Natur bei der Gurgel, wo er gerade steht und trägt sie her,
als wäre er der Herr der Welt. In das siegreiche protestantische Holland hatte sich die Freiheit geflüchtet.
Hier blühte keine von der Kirche gepflegte, auch keine höfische Kunst. Sie stand im engsten Zusammenhang
mit dem Bürgertum, trug deutlich das Kennzeichen der Kämpfe, unter denen Land und Volk sich ihre Selbst-
ständigkeit errungen hatten. Zunächst feierte die Malerei als ihren würdigsten Gegenstand den freien Bürger,
 
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