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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 8.1892-1893

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Muther, Richard: Alte und neue Kunstgeschichte, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.11054#0267

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Alte und neue Kunstgeschichte.

Weisen hingebender Liebeswerbung um die Natur —' ununterbrochen im Laufe der Jahrhunderte, bald gemalt-
thätig, bald zart und geduldig, zuweilen auch nicht ohne vorübergehenden Treubruch — gerade sie sind es, die
Schönheit und Reichtum, Geheimnis und Wesen der Kunst ausmachen und für die Kunstgeschichte alles sind,
was ihr Mannigfaltigkeit und unerschöpflichen Reiz verleiht.

Das 19. Jahrhundert bezeichnet nicht nur ein neues Jahrhundert, sondern einen Abschnitt der Welt-
geschichte. Es ist wahrscheinlich, daß dieser Epoche gährender Bewegung, wo die Umwälzung aller staatlichen
und sozialen Verhältnisse, die neuentdeckten Mittel des Verkehrs, des Handels und der Industrie allmählich
der Welt ein ganz anderes Gepräge gaben — daß dieser Epoche gegenüber das kommende Jahrtausend alle
vorhergehenden Jahrhunderte als „die alte Zeit" zusammenfassen wird. Neue Menschen brauchen eine neue
Kunst. Man sollte daher meinen, daß gerade die Kunst des 19. Jahrhunderts sich als eine durchaus eigen-
artige, mit einem scharf ausgeprägten Stil, darstelle. Statt dessen bietet sie im Gegensatz zu jenen alten ein-
heitlich produktiven Zeiten auf den ersten Blick das Bild babylonischer Zustände dar. Das 19. Jahrhundert
hat keinen Stil — ein Satz, der so oft ansgesprochen wurde, daß er zum Gemeinplatz geworden ist. In der
Architektur leben die Formen aller vergangenen Jahrhunderte wieder auf. Man baute vorgestern griechisch,
gestern gotisch, hier barock, dort japanisch, aber zwischen diesen Erzeugnissen einer rückwärtsschauenden Stilistik
wachsen auch Bahnhöfe und Markthallen empor, die in der kraftvollen Eleganz ihres eisernen Balkenwerks die
Größe neuer Eroberungen verkünden. Auf dem Gebiete der Malerei ganz ähnliche Gegensätze. Wohl in keiner
Zeit haben so verschiedene Geister neben einander gelebt wie Carstens und Goya, Cornelius und Corot,
Ingres und Millet, Wiertz und Courbet, Rossetti und Manet. Und die vorhandenen Geschichtswerke erwecken
den Glauben, daß das 19. Jahrhundert ein Chaos sei, in das erst eine spätere Zeit Ordnung wird bringen
können.

Vielleicht aber ist es doch schon heute möglich, wenn man sich nur entschließt, die bei der Behandlung
der alten Kunstgeschichte erprobten Prinzipien rücksichtslos auch auf die neue Zeit auzuwenden, wenn man
versucht, Künstler, die zum Teil noch unsere Zeitgenossen sind, so objektiv zu studieren, als ob es längst ver-
storbene Meister wären.

Das heißt: Gerade bei der erdrückenden Fülle des Einzelmaterials muß die Auswahl des Wichtigen
mit um so größerer Vorsicht geschehen. Es handelt sich nicht um die Aufstellung eines neuen Schiffskatalogs,
nicht darum, über möglichst viele Erscheinungen, die irgendwo auftauchten, etwas zu sagen, sondern nur darum,
diejenigen, die wirklich mitsprachen, in die Handlung eiutreten zu lassen. Eine Aufzählung aller derer, die sich
im 19 Jahrhundert — wenn auch noch so ehrenhaft — mit Malerei ernährten, würde ebensowenig eine
Geschichte der modernen Malerei ergeben, wie eine Bearbeitung von Kürschners Literaturkalender eine Literatur-
geschichte. Nur die Spitzen, nicht das Gros. Nur die Heroen. Und selbst bei diesen wird der Mensch nicht
weiter zu berücksichtigen sein, als er notwendig ist, den Künstler zu erklären. Das Leben eines Malers in
unfern gesitteten Zeiten ist im allgemeinen das eines ruhigen Bürgers, der, ohne Absonderliches durchzumachen,

seinem Beruf nach-
geht. Biographien
werden also in den
meisten Fällen dem
Künstlerlexikon
Vorbehalten blei-
ben. Auch die aus-
führlichen Be-
schreibungen des
stofflichen Inhalts
der Bilder können
sehr reduziert wer-
den. Berthold
Auerbach erzählt
von einem Rund-
gang durch die
Münchener Pina-
kothek, den er in der
Gesellschaft eines
Malers machte. Er
hatte gehofft, von
diesem sehr viel
Geistreiches über
 
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