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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 8.1892-1893

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Schultze-Naumburg, Paul: Der Samariterdienst auf dem großen St. Bernhard
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Der Samariterdienst auf dem großen St. Bernhard

sogar die neue Welt ihr Interesse ganz besonders auf
die Alpenstraßen, die von Germanien nach Wälschland
führen, gerichtet hatte. Es war damals, als Tschudi
und Berlepsch ihre mustergiltigen Werke geschrieben
hatten, als noch einmal die ganze keusche Romantik
der Hochalpen aller Welt sichtbar wurde. Seitdem aber
das Dampfroß die Thäler hinaufkeucht und die Bahn-
züge donnernd die Tiefen der Felsen durchlaufen, hören
die meisten Reisenden wenig oder gar nichts mehr von
den alten Alpcnstraßen, die in vielen tausend Meter
Höhe über ihre Päße ziehen. Und doch ist es eine
durchaus irrtümliche Ansicht, daß diese Straßen, die
Römer einst bauten, heute etwa verödet und überflüßig
wären; sie werden im Gegenteil bei dem steigenden
Verkehr mehr und mehr benutzt und jährlich vergrößern
sich die Ziffern der Passanten. So wurde erwiesen,
daß der große St. Bernhardt in einem Jahre von
12 000 Menschen — allerdings fast durchweg Arme —
begangen wurde, daß sich indessen diese Zahl in den
letzten Jahren auf 20 000 gesteigert hat. Wer nun
aber die Gefahren kennt, denen der Wanderer auf
diesem nicht fahrbaren Alpenpaß ausgcsetzt ist, wird bei
den genannten Zahlen auch den unschätzbaren Wert der
Hospitien mit ihren Rettungsmannschaften begreifen.

Der von Norden her Reisende verläßt in Martigny
den Genfer Zug. In schöner Landschaft geht es über
Orsiöres nach Bourg St. Pierre, dem letzten Alpen-
dorfe; lang hingezogen, mit uralter Kirche, macht es
einen ernsten, fast düsteren Eindruck. Der Weg ver-
engt sich und steigt in felsiger Landschaft allmählig an;
tief unten braust durch zerklüftete Schluchten ein wildes
Bergwasser. Man passiert die Stelle, an der 1800
Konsul Bonaparte fast in den Abgrund gestürzt wäre,
als er an der Spitze von 30 000 Mann mit Geschützen
den Paß überschritt. Bis hierher zeigt sich, wo das
Terrain es gestattet, hie und da noch ein Tann oder
ein Unterholz von niedrigen Föhren, spärlich und spär-
licher, bis cs sich gänzlich verliert. Bei Cantiue de
Proz, einer einfachen Bergschenke, hört der Fahrweg auf.
Ein Engpaß — ckeülee cts IckarenZo genannt — führt
in das Totenthal, dessen schauriger Name bezeichnend
genug für die öde Wildheit der Gegend ist. Über dem
Steingeröll der langgestreckten Berghalden liegt tiefer
Schnee, um uns im Kreise scheinen weiße Bergkuppen
den Ausgang zu versperren. Endlich werden die schwer-
fällig düsteren Mauern des Hospizes sichtbar, das sich
wie ein schwarzer Fleck in dem eintönigen Grau der
Landschaft ausnimmt, dahinter ein kleiner See, dessen
eisige Fläche der Sturmwind an einigen Stellen bloß-
gefegt hat.

Die Gebäude stammen noch aus dem 16. Jahr-
hundert und werden von einer Anzahl Augustinermönche
und Laienbrüder bewohnt, denen die Pflicht obliegt,
bei Schneewehen — was selten einen Tag ausbleibt —
mit den Hunden die gegährlichsten Stellen des Passes
abzusuchen und die vor Kälte Erstarrten, oder von Lawinen
Verschütteten zu bergen. Die Rettungsgeschichten dieser
Hunde sind genugsam bekannt; berühmt ist der brave
Barry geworden, der allein 42 Menschenleben dem
Tode entrissen haben soll, weßhalb er jetzt auch die
Ehre genießt, ausgestopft im Berner Museum zu
stehen. — Die eigentlichen Bernhardinerhunde sind Wohl
ausgestorben; die heute benutzten Tiere werden für

eine Kreuzung mit Doggen ausgegeben und sind kurz-
haarige große Kerle, mit denen im allgemeinen nicht
gut Kirschen essen ist. Sie haben etwas von der Wild-
heit der Natur angenommen und wenn sie auch sonst
den edlen Hundecharakter nicht verläugnen, so fällt es
doch auf, wie feindselig sie die Fremden, die nicht den
Vorzug haben, im Schnee verschüttet zu sein, betrachten.

Wenn es der vorzüglich eingerichtete Sanitäts-
dienst auch kaum mehr zu Unglücksfällen kommen läßt
(der letzte geschah im Jahre 1874), so ist es doch für
den auf dem Hospiz Hausenden nichts seltenes, daß in
die Einsamkeit seiner Klause mit dem monotonen Ge-
heul des Sturmwindes laute Klagerufe dringen, die von
erschöpften Reisenden, von Klosterleuten eingebracht, her-
rühren. In bleierner Ermattung, vielleicht in stehender
Stellung hat man sie gefunden und nun wehren sie
sich, weil man sie nicht ihrem todbringendem Schlummer
überläßt.

Ein jeder Fremde, reich oder arm, wird hier
kostenlos bewirtet; allerdings wird ersterer mindestens
die entsprechende Summe in den Opferstock der Kirche
legen, allein diese Einnahmen stehen in keinem Ver-
hältnisse zu den großen Summen, die die Speisung der
oft täglich nach Hunderten zählenden Armen erfordert,
die zudem oft noch gekleidet werden müssen, da man die
vielleicht eben erst dem Tode entrissenen nicht weiter in
durchlöcherten Stiefeln und fadenscheinigem Rock ziehen
läßt. Diese „Passanten dritter Klasse" werden in
einem weiten, mittelalterlich ausschauenden Gemache
untergebracht, dessen Wände als — Fremdenbuch fun-
gieren. Wände und gewölbte Decke sind bedeckt mit
französischen und italienischen Namen, nur selten stößt
man auf einen urdeutschen, wie „Samuel Speckwurster
aus Westfalen hinkt nach Mailand". — Die meisten
dieser Passanten sind arme Italiener, die aus Savoyen
nach Frankreich ziehen oder enttäuscht von dort zurück-
kehren.

Freundlicher berührt der Speisesaal „erster Klasse",
der sich allerdings nur im August, dem einzigen Monat,
der teilweise schneefrei ist, bevölkert, aber dann auch
ziemlich zahlreichen Besuch erhält. Alte vergilbte Fremden-
bücher, die bis auf den Anfang des Jahrhunderts zurück-
gehen, erzählen von gar manchen Souveränen und be-
rühmten Persönlichkeiten, die ihren Besuch oft auch
durch Überweisung eines Geschenkes dokumentierten. So
stiftete z. B. Prinz von Wales ein gutes Klavier, oder
etliche Engländer und Engländerinnen ein Harmonium.
Überhaupt gedeiht hier oben auf dem höchsten bewohnten
Punkte Europas die Musik erfreulicher, als auf manchem
tiefergelegenen, was am Ende auch nicht viel zu sagen
hat. So hatten einmal vier musikalische Mönche ein
Streichquartett arangiert und regelmäßig pflegen sämt-
liche den geistlichen Chorgesang, mit dem sie in der
Kirche das Spiel der Orgel begleiten und setzen sogar
an gewissen Festtagen ein kleines Oratorium in Szene.
Bezeichnend ist es, wie wichtig solche anscheinende Kleinig-
keiten werden köunen. Leuenberger schrieb mir einmal . . .
„wenn ich des Morgens durch der Orgel Spiel und
das Gebet der Mönche, welches feierlich durch die Gänge
hallt, aus einem eigentümlich tiefen Schlaf erwachte
und hoffte, mich endlich an einem klaren Himmel er-
quicken zu können, so enttäuschte mich regelmäßig das-
selbe Wirbeln und Jagen des Schnees vor den Fenstern.
 
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