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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 8.1892-1893

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Schultze-Naumburg, Paul: Der Samariterdienst auf dem großen St. Bernhard
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von Paul ^chultze-Naumburg.

359


Es gab einmal eine Zeit, als ganz Europa, ja
Seltsam traut tönte mir da der Schlag eines kleinen
Kanarienvogels in der Zelle nebenan. Sein Sang ent-
riß mich oft einer über mich hereinbrechenden Melan-
cholie, gemahnte mich, daß ich noch unter den Lebenden
wandelte . . ."

Es wird demjenigen, der sein Leben im Gewühl
der Großstadt zubringt, schwer, sich auch nur ganz den
Gedanken zu vergegenwärtigen: wie heroisch der Ent-
schluß, sein Leben hier oben — gar viele beschließen
es hier als Opfer des Klimas — im ewigen Winter
im Dienste edelster Menschenliebe zuzubringeu. Sehr
wahr ist die Bemerkung, die ein Lieutenant Hammer-
stein ins Fremdenbuch schrieb: Nichts im Leben ver-
möchte mehr für solch einen harten Dienst zu befähigen,
als ein starker Glaube. — Moderne Helden sind sie,
diese bescheidenen Männer, welche keinen irdischen
Lohn für ihre Thaten beanspruchen; die Hände kreuz-
weis in die engen Ärmel der schwarzen Kutte gesteckt,
eilen sie mit leichter Verbeugung stummen Grußes vor-
über; es fällt den Fremden fast auf, wie zurückhaltend,
fast scheu sie sind.

Die einzige geistige Anregung, die ihnen geboten
ist, besteht in der allerdings ziemlich umfangreichen
Bibliothek, die neben den üblichen antiken Autoren auch
manche moderne, namentlich französische Klassiker ent-
hält — wie überhaupt hier die französische Sprache
einzig herrscht. Ein wenig Wissenschaft wird auch ge-
trieben, denn den Dienst der meteorologischen Station
verwesen ebenfalls Mönche; täglich trägt der Telegraph
die Witterungsbcobachtungen nach Genf, von wo aus
sie weiter mitgeteilt werden.

Es liegt wohl in der Natur des Menschen be-
gründet, daß sein Gemüt ganz besonders für alles
Grausige und Unheimliche empfänglich ist. Dies erklärt
wohl auch das ganz ungemeine Interesse, das alle Be-
sucher, und Besucherinnen nicht minder, der Morgue,
dem Orte, wo die Leichen Verunglückter zur Schau ge-
stellt werden, entgegenbringen. Die Mönche beobachten
mit stiller Ironie, wie gewöhnlich den ersten Fragen
bald die nach „dem Totenhause" folgt, willfahren jedoch
stets gern der Bitte um Geleit dorthin. Es ist ein
einsam stehendes Haus hinter dem Hospiz, in dem die
Leichen untergebracht werden, die sich in der dünnen
und eisigen Bergluft jahrelang halten und, zu Mumien
eingetrocknet, oft noch nach langer Zeit rekognosziert

werden können. Durch eine Fensterluke schaut man
hinein, der Anblick ist jedoch neben dem wenig lieb-
lichen Geruch ein so erstaunlich uninteressanter — dank
dem treuen Walten der Samariter — daß selten je-
mand nähere Bekanntschaft mit dem Innern zu schließen
wünscht. Wie die Bewohner des Hospizes berichten, ist
schon einigemal von französischen Malern der Versuch
gemacht worden, in der Morgue Studien zu machen.
Bekannt ist wohl keine derselben geworden, wenn sie
überhaupt entstanden sind; jedenfalls ist es ebenso be-
zeichnend für die heutige Tendenz, das Widerliche und
Grausige aufzusuchen, als für das Streben Leuenbergers,
den großen Stoff kraftvoll zu gestalten und doch dem
„versöhnenden Element", nach dem man so oft ver-
langen hört, Rechnung zu tragen. Allerdings bot sich
ihm hier ein Vorwurf, der ganz dazu angethan zu sein
scheint, den Maler zu heben und zu tragen. Denn
nicht allein ist die Grundbedingung erfüllt, daß er emi-
nent malerisch in des Wortes bester Bedeutuug ist, sondern
er bietet auch reichste Gelegenheit, zu individualisieren
und die Szene dramatisch bewegt zu gestalten, ohne ins
Theatralische zu verfallen; zuletzt ist der ganze Vor-
gang ein so rein menschlicher, nahe liegender, nicht aus
Wolkenkukuksheim oder aus Bücherweisheit mühsam her-
vorgesuchter, daß er auf das ungeteilteste Interesse
rechnen kann. Zu verwundern ist nur, daß sich noch
nie ein Maler dieses prächtigen Stoffes bemächtigt; und
daß es diesmal ein Schweizer that, bestätigt die alte
Erfahrung, daß heimatliche Empfindung und Sympathie
doch stets die stärkste und fruchtbarste ist.

Leuenberger ist im Jahre 1856 in Bern geboren.
Nachdem er dort einige Zeit praktisch thätig gewesen,
studierte er in München unter Raab und Alex. Wagner,
ging von da nach Karlsruhe zu Keller, unter dem er seine
ersten Bilder malte, von denen jedoch nur das „uner-
wartete Dekret" bekannter geworden ist. Seit 1891
arbeitete er an dem großen Bilde, das dieses Jahr die
Münchener Jahresausstellungsschmückt (unsereBilderbeilage).
Wie weit er die Aufgabe gelöst, ist hier nicht der Ort zu
entscheiden; wünschen dürfen wir ihm jedoch, daß seine Arbeit
nicht im Gewühle der Welt verloren gehe, wie so manche
verdienstliche andere, sondern an einem öffentlich zugäng-
lichen Orte seine Aufstellung findet, wo es neben den
Verherrlichungen einstiger Waffenthaten eines kühnen
Volkes an die Liebeswerke moderner Helden ge-
mahnen soll.

Studie, von L. Leuenberger.
 
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