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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 8.1892-1893

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Becker, Benno: Die Ausstellung der Secession in München, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.11054#0465

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Die Ausstellung der Secession in München.

Vor der Schuir, von Hans Herrmann.

zufrieden. Die wir aber Gedankengymnastik wohl als Mittel, doch niemals als Ziel betrachten, verzweifeln
wir daran, den roten Faden zu finden, genießen dankbar die gebotenen Herrlichkeiten und überlassen es
späteren Zeiten, der ausgelebten Epoche gerecht zn werden. Wer imstande ist ein größeres Stück Kunstgeschichte
zu übersehen, dem muß sofort die Vielstrahligkeit der modernsten Entwickelung ins Auge fallen. Das ist etwas
durchaus Neues, etwas zu keiner Zeit Beobachtetes nnd es war auch erst möglich, als die Malerei ganz und
gar aufgehört hatte, Handwerk zn sein. Wenn die Kunst der Renaissance in Italien so gut wie in den Nieder-
landen und Spanien einen so einheitlichen Eindruck macht, daß mit ziemlicher Sicherheit jedes Werk dieser
Periode sofort als solches erkannt werden kann, so ist das nur eine Wirkung der handwerksmäßigen Aus-
übung. Für das Rokoko gilt das Gleiche. Die Schüler stehen dem Lehrer außerordentlich nahe; die meisten
sind sklavische Nachahmer, wenige nur zeigen schwache Spuren von Selbständigkeit und selbst die paar starken
Talente kommen erst nach vieljährigem Schaffen dazu, sich freier zu regen. Das machte die lange Gewohnheit
im Atelier des Meisters, der Zwang, sich in die Pläne eines andern zu fügen, sie auszuführen nach dem
starken Willen des Leitenden. Das machte auch die beschränkte Beweglichkeit, der Mangel an vielseitiger An-
regung, die Unmöglichkeit, viel von anderen Bestrebungen zu sehen. Das machte der ganze Zuschnitt des

bürgerlichen Lebens, das große Überblicke nur wenigen Bevorzugten gestattete, das beschaulich und langsam

vorging, Schritt für Schritt, mißtrauisch gegen alles Sprunghafte und Überhastete. Die geistigen Einflüsse
sonderten sich in zwei Hauptgruppen, religiöse und antike, sehr allmählich erst trat ein soziales Element hinzu.
So geschah es, daß dieselben wenigen Thematas immer aufs neue variiert wurden, daß Formsprache und
Farbengefühl in den gegebenen Bahnen alle irgend möglich erscheinenden Fälle erschöpfte, und das Resultat
war jene staunenswerte Größe, jene merkwürdige Einheit in der Fülle, die wir Stil zu nennen gewohnt sind.

Der Stil ist das starke und erstarrte Kunstgefühl einer Zeit.

Ob es nun aber möglich ist aus unserer Zeit schon den Stil herauszukennen? Ich wage es, diese
Frage zu verneinen. Der Strom der Kunst rast an uns vorbei, ungezügelt, durch nichts gehemmt tummeln
sich die Individuen. Ob es einmal möglich sein wird von all den Werken, die unter unseren Augen ent-
standen, mit Gewißheit zu sagen, sie gehören dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts an, sie können
keiner anderen Periode entstammen, das scheint sehr unwahrscheinlich. Das noch nicht zur Klarheit gekommene
Zeitalter, zu sehr erst im Werden begriffen, hat eine ebenso unsichere und schwankende Kunst gezeitigt. Das ist
der Fluch der Übergangszeiten.
 
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