Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 26.1928
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https://doi.org/10.11588/diglit.7393#0418
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Heft 10
DOI article:Grossmann, Rudolf: Ausdrucksstudien bei den Irren
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RUDOLF GROSSMANN, ZEICHNUNG AUS EINEM IRRENHAUS
mann, der plötzlich aus der Jungfraubahn ins Ge-
birge entsprang und dort nackt aufgefunden wurde.
In seinem Koffer hatte er noch eine Reihe neuer
Anzüge. Man gibt sie ihm nicht, er trennt sie alle
auf und heftet sie in lächerlicher Weise an seinen
Körper." — Die anderen Kranken stehen noch
still — unbeteiligt, es geht sie nichts an; er aber
kommt uns nach, den kleinen Hügel hinunter,
immer mehr insistierend, immer schneller, er gibt
seine anfängliche Reserve auf: „Herr Doktor, Sie
verzeihen, aber mit diesem Anzug--" hören
wir im Weitergehen noch einige Zeit, dann steht
er wieder still, eingeordnet mit den andern auf
dem kleinen Platz.
In einer Sonderzelle am Boden hockt im weißen
Hemd ein intelligent aussehender Patient, er er-
hebt sich, kommt auf mich zu: „Nun, wie fühlen
Sie sich heute?", fragt er teilnahmsvoll und greift
nach meinem Puls, genau wie ein Arzt. Er ist es
auch, die anderen Arzte stehen betroffen. Ich zi-
tiere Kraus: „Das Verhältnis zwischen Arzt und
Irren ist das von konkavem und konvexem Irr-
sinn!" Hier ist er konvex geworden.
In dunklen Korridoren stehen Katatoniker im
Krampf in den schwierigsten, unmöglichsten Stel-
lungen oft stundenlang. Löst sich die Spannung,
fahren sie plötzlich weit aus mit großer Geste.
Bei der Wanderung durch viele Säle, in denen
sie meist in Betten liegen, durch Anstaltshöfe, wo
sie Gartenarbeit verrichten, oder durch die Wohn-
zimmer der leichter Kranken und Genesenden, die
da gemütlich beisammen sitzen, denke ich, ob nicht
bestimmte Gruppen besser als wir sie, die wir uns
nur an ihren Ausdruck halten können, sich unter-
einander verstehen, ob nicht nur ein anderes Welt-
bild sie von uns trennt, von dem aus gesehen sie
uns für verrückt halten könnten. Denn unser Welt-
bild ist ja auch vorgestellt, existiert nur in unserm
Gehirn. (Vielleicht fehlt ihnen nur die simple
Fähigkeit des Nachkontrollierens.) — Dann sah
ich sie wieder ganz isoliert, ganz dissoziat, ohne
Zusammenhang unter sich. Trotzdem: einiges
spricht doch für Verständnis füreinander, für ver-
nünftiges Bewußtsein, das oft grotesk anmutet.
Ich stehe zwischen zwei Betten, zeichne eine Frau,
die mit gerötetem Gesicht zu toben beginnt, an
den Bettplanken rüttelt. „Sei ruhig, dummes Weib,"
ruft ihre Nachbarin herüber, „der Herr hält dich
sonst noch für verrückt." Oder: ein dementer
Greis beginnt plötzlich zu schreien, schlägt um
RUDOLF GROSSMANN, ZEICHNUNG AUS EINEM IRRENHAUS
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mann, der plötzlich aus der Jungfraubahn ins Ge-
birge entsprang und dort nackt aufgefunden wurde.
In seinem Koffer hatte er noch eine Reihe neuer
Anzüge. Man gibt sie ihm nicht, er trennt sie alle
auf und heftet sie in lächerlicher Weise an seinen
Körper." — Die anderen Kranken stehen noch
still — unbeteiligt, es geht sie nichts an; er aber
kommt uns nach, den kleinen Hügel hinunter,
immer mehr insistierend, immer schneller, er gibt
seine anfängliche Reserve auf: „Herr Doktor, Sie
verzeihen, aber mit diesem Anzug--" hören
wir im Weitergehen noch einige Zeit, dann steht
er wieder still, eingeordnet mit den andern auf
dem kleinen Platz.
In einer Sonderzelle am Boden hockt im weißen
Hemd ein intelligent aussehender Patient, er er-
hebt sich, kommt auf mich zu: „Nun, wie fühlen
Sie sich heute?", fragt er teilnahmsvoll und greift
nach meinem Puls, genau wie ein Arzt. Er ist es
auch, die anderen Arzte stehen betroffen. Ich zi-
tiere Kraus: „Das Verhältnis zwischen Arzt und
Irren ist das von konkavem und konvexem Irr-
sinn!" Hier ist er konvex geworden.
In dunklen Korridoren stehen Katatoniker im
Krampf in den schwierigsten, unmöglichsten Stel-
lungen oft stundenlang. Löst sich die Spannung,
fahren sie plötzlich weit aus mit großer Geste.
Bei der Wanderung durch viele Säle, in denen
sie meist in Betten liegen, durch Anstaltshöfe, wo
sie Gartenarbeit verrichten, oder durch die Wohn-
zimmer der leichter Kranken und Genesenden, die
da gemütlich beisammen sitzen, denke ich, ob nicht
bestimmte Gruppen besser als wir sie, die wir uns
nur an ihren Ausdruck halten können, sich unter-
einander verstehen, ob nicht nur ein anderes Welt-
bild sie von uns trennt, von dem aus gesehen sie
uns für verrückt halten könnten. Denn unser Welt-
bild ist ja auch vorgestellt, existiert nur in unserm
Gehirn. (Vielleicht fehlt ihnen nur die simple
Fähigkeit des Nachkontrollierens.) — Dann sah
ich sie wieder ganz isoliert, ganz dissoziat, ohne
Zusammenhang unter sich. Trotzdem: einiges
spricht doch für Verständnis füreinander, für ver-
nünftiges Bewußtsein, das oft grotesk anmutet.
Ich stehe zwischen zwei Betten, zeichne eine Frau,
die mit gerötetem Gesicht zu toben beginnt, an
den Bettplanken rüttelt. „Sei ruhig, dummes Weib,"
ruft ihre Nachbarin herüber, „der Herr hält dich
sonst noch für verrückt." Oder: ein dementer
Greis beginnt plötzlich zu schreien, schlägt um
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