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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 14.1922

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Heft 1
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Wiese, Erich: Ein Mystiker-Kruzifixus in Breslau
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https://doi.org/10.11588/diglit.33342#0057

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hundert Dafür fpridbjt nicht nur die unter fe^te Proportion. Jede einzelne Form zeigt
die cßarakteriftifche Cendenz der erften „Renaiffance“ um 1400, die des Fjerausmodelliert-
ftatt Fjineingegraben-UIerdens. Die Blutstraube, die aus der Seitenwunde wuchert, die
vollen Cropfen der Dränen und des Blutes an Augen, Stirn, Hals, Händen und Knien
illuftrieren das deutlich; nicht minder die zahlreich den Körper bedeckenden Beulen
und Geißelhiebe, die aus dicker Kreidefd)id}t plaftifd) ßerausgebildet find. Schnüre
find unterlegt und übertünd)t worden, um in gleichem Sinne die fchwellenden Adern
an Armen und Beinen in Erlernung zu bringen. Der Leib, obgleich eingefallen, ift
dod) in klaffifd)er Bedeutung fcßön gewölbt und wird von einer ungemein kühn und
fein modellierten Faltenfd)üffel von überrafdjender Ausladung und Liefe umfangen.
Bei aller Intenfität der Verfenkung in den körperlichen 3uftand des „Mannes der
Schmerzen“ atmet dod) jegliche Form, auch das Geficht, eine gewiffe Milde der Emp-
findung, die beifpielsweife das Kreuz in Andernach, das dem unferen in der Gefamt-
erfcheinung am nächften fteht, nicht hat. Das gleiche Ethos dagegegen fpricht aus den
(Uerken eines Künftlers, den id) den Meifter der Dumlofe-Kapelle nannte, nad) einer
Kreuzigungsgruppe in der [ogenannten Dumlofe-Kapelle von St. Elifabett) zu Breslau1.
Der Kruzipxus diefer Gruppe kann einen glauben machen, daß unfer Sd)merzens-
Kruzißxus vom gleichen Meifter, aber für einen anderen 3weck gefchaffen worden fei.
Da die Corpus-Chrifti-Kirche eine Johanniterkirche war und die Ordensmitglieder aud)
in ihrer Breslauer Kommende Jich in einem Hofpital, eben dem zum heiligen Leichnam,
vorwiegend der Krankenpflege widmeten, liegt der Gedanke nahe, daß das Kreuz als
Droftkreuz der Siechen gefertigt wurde. So verlockend es ift, das Üüerk in die Jahre
der Hungersnot und Peft, um 1318, zu fetjen, in welcher 3eit der Friedhof auf dem
Gebiet der heutigen Kirche nebft einer Kapelle gegründet wurde, fo wenig fprechen
die angeführten ftiliftifchen Merkmale dafür.
Breslau bepfet (auf der Nordempore von St. Barbara) noch einen Kruzißxus gleicher
Art, dem Maria und Johannes beigefeilt find. Er ift offenbar am Ende des 14. Jahr-
hunderts entftanden und neigt im Ausdrucksinhalt mehr den angeführten weftlidhen
Kreuzen zu. Nid)tsdeftoweniger ftütjen diefe Breslauer Kreuze die Vermutung ttlittes,
daß die Gattung als Urfprungsland „flawifch beeinflußte Länder“ haben könnte. Von
Bedeutung für diefe Frage ift das Vorhandenfein eines ganz ähnlichen Kreuzes im
ungarifchen Komitat 3*PS (abgebildet im Inventarwerk diefes Komitats, Budapeft 1906).
Das Andernad)er Kruzifix heißt noch heute das Ungarnkreuz und ift nach der Legende
von ungarifchen Geißelbrüdern in Andernach zurückgelaffen worden3. Und: für den
Dumlofe-Meifter habe ich ftarke Beziehungen zu Südböhmen nachweifen können.
1 S. Hnm. 2, Seite 32.
2 mitte, a. a. O. XXXIV.

Der Cicerone, XIV. Jaijrg., F>eft 1

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