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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 14.1922

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Heft 20
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Lill, Georg: Passionsfiguren des 15. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.33342#0842

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Paffionsfiguren des 15. Jahrhunderts

Mit drei Abbildungen auf zwei Tafeln Von GEORG LILL


Mit der Mitte des 15. Jahrhunderts fet^t in der deutfdjen Plaftik ein bemerkbares
Abrücken von der empfindfamen Einteilung der myftifchen Äuffaffung ein. Ge-
wiß liegt ein Grund dazu in der langfamen Erftarrung der myftifchen Bewegung,
die zwar noch einige Spätblüten treibt, aber ihren Kulminationspunkt überfchritten hat.
Eine neu ein fegende wirtfchaftlidje Blüte läßt vor allem ein neues Lebensgefühl im
deutfcßen Bürgertum erwachfen, das fleh in der Kunft in einem neuerwachenden Rea-
lismus und in einem Streben nach einer neuen Monumentalität ausfpricht.
An den Beginn diefer Epoche, etwa um 1460, [teilen zwei Figuren, die zu einer
wohl urfprünglich viel größeren Folge von Szenen aus der Paffionsgefcl)ichte gehören.
Urfprünglich ftanden fie in einer Kirche der bayerifch-fchwäbifchen Donaugegend zwifchen
Donauwörth und Ingolftadt und gelangten im Frühjahr 1922 in den Befit^ der Mün-
chener Kunfthandlung Norb. Fifchmann, von wo fie inzwifdjen in Privatbcfits überge-
gangen find. Die Fjöhe ift ungefähr 1,70 m. Sie find vollrund aus Lindenholz ge-
fchnitzt, die Faffung ift nicht mehr intakt; einzelne Geile, wie Fjände und Nafen, find
ausgebeffert. Ihre frühere Aufteilung wird man fiel) in nifdjenartigen Vertiefungen
an der Kirchenwand zu denken haben, wie dies in der Spätgotik häufig vorkommt.
Als kennzeichnend für den neuen Kunftwillen der Spätzeit darf man feßon die un-
gewöhnliche Fjöl)e der Figuren anfprechen, die bewußt damit in eine neue Monumen-
talität gehoben werden füllen und nichts mehr mit der zierlichen Innigkeit der vorher-
gehenden Epoche zu tun haben, Beftrebungen, die feit 1440 etwa deutlich bemerkbar
werden. Einen neuen Sinn erhält auch das Verhältnis von Körper und Gewand. Ge-
rade das tritt an den Figuren fo überrafchend zutage. Gewiß ift die Freude an dem
dekorativen Raufcßen der Falten noch lebendig, aber es bleibt nicht das einzige mufika-
lifd)e Mittel, nur um Gefühl zu erzeugen, wie eine Generation vorher. Gerade der
Künftler diefer Gruppen legt ein ganz befonderes Gewicht darauf, den Körper unter
den Gewändern in feiner Funktion zur Geltung kommen zu laffen. Man beachte das
rechte Knie Mariens, den linken Fuß des Johannes, die ftarke Diagonalwirkung der Arme,
oder die klare Schrittftellung bei Cßriftus. Die Figuren haben eine ganz andere Naturnähe,
als dies bisher der Fall war. Das kräftige 3ulangen des Johannes kommt aus diefem
neu eingeftellten 6üirklid)keitsblick heraus. Ein fo fühlender Künftler wird bei der
Großzügigkeit bleiben, die feine Glättung von Gepicht und Fjänden liegt ihm nicht;
Plaftizität, Körperbewegung, Funktionsklarheit intereffieren ihn dafür. Diefe derbere
und größere Äuffaffung im öftiießen Süddeutfcßland fteßt im feßarfen Gegenfatj zu
einer neuen verzierlichten Empfindfamkeit, wie fie von den Niederlanden tyzmntev-
kommt, und in ftüeftdeutfehlend ihren Gipfelpunkt in Martin Schongauer hat. Der Aus-
lauf der Bewegung wäre etwa Eil Riemenfehneider. Unfere derbere, aber auch groß-
zügigere Linie geht dagegen zu Pacher und Leinberger hinüber. In der Milte hält fiel)
die ülmer Schule.

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