Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 14.1922

DOI issue:
Heft 9
DOI article:
Der Büchersammler
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.33342#0409

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext

Die Schrift als wiffenfd)aftli<hes Problem
Die Kunftform ift die Form, die eine 3eit fid) fchafft. Die Xunftform wird abhängig vom „Geift
der 3eit“. Qnd dies gilt nicht nur von ihr als alles beherrfchendem Stilzeichen, [ondern in
gleichem Sinne von den önterteilen, aus denen die Kunftform [ich zufammenbaut. Es ift
nicht nur die Eigenart der Proportionen, die einem Bauwerk den Stempel einer ganz beftimmten
3eitzugehörigkeit aufdrückt, die geheime Beeinfluffung wirkt [ich aus in der lichten Güeite, in der
ein Innenraum fich ausatmet, in dem Charakter der zierenden Beftandteile, deren relative Häufigkeit,
deren beherrfchende oder aber zurücktretende Beziehung zu den architektonifchen Konftruktions-
gliedern —es ift weiterhin die Verwendung nicht architektonifcher Elemente, unter denen das natür-
liche Licht, was der Barockbaumeifter gefchickt in Schatten umzufe^en liebte, die Farbe und die
Landfchaft eine hervorragende Rolle fpielen — mit all diefen und anderen Faktoren arbeitet eine
3eit ftilbildend. Gebannt von dem 3eitgeifte fchafft der Architekt, der Gewerbler, der Mufiker,
der Dichter, der Schaufpieler. Sie geben fid) dem Glücke einer Freiheit der fd)öpferifd)en Phantafie
hin und gehorchen dennoch einem 3wange, der ihr Denken und Sinnen beherrfcht, der ihnen das
Äuge univerfal oder einfeitig richtet, der ihre Hand führt und das üüerkzeug arbeiten heißt. Dem
Kunftfchaffen liegt 3wangsläufigkeit zugrunde, fofern der Schaffende mit dem ganzen Umfange
feines individuellen geiftigen Habitus ein Genoffe feiner 3eit und an den Triebkräften und den
Cüillen beftimmenden Elementen überhaupt beteiligt ift. Die moderne, pfychologifd) zunehmend
intereffierte Kunftwiffenfchaft verfucht in ßüechfelwirkung mit anderen wiffenfchaftlichen Difziplinen
den Geift einer 3ßit (Stilepoche) aus der Hrt des 3ufammenklanges einzelner Formmerkmale einer-
feits und aus der Prägnanz und Haltung des ganzen Kunftwerkes andererfeits die innere Struktur
aufzudecken, um allgemeinere geifteswiffenfchaftliche Rückfchlüffe daraus abzuleiten. Es ift klar,
daß die Technik diefer kunftwiffenfchaftlichen Methode zur 3ßit noch nicht in der Lage ift, un-
anfechtbare Ergebniffe vorzulegen. Die hiftorifche befchreibende Hrt, aber auch das fo fehr nahe-
liegende, jedoch deshalb auch fehr einfeitige Bearbeiten einzelner hiftorifcher Perfönlichkeiten wirkt
noch hemmend. GQir werden hier indeffen reichliches Material vorfinden. Vielleicht pnd die freien
bildenden Künfte anfangs gar nicht befonders geeignet zu Forfdmngen der gemeinten Hrt. Vielleicht
bieten gerade fie die meiften Komplikationen, die — will mir fd)einen — wahrfcheinlid) in der fchweren,
zur 3eit kaum möglichen Scheidung des Kunftwerkes in die beiden Hauptbeftandteile feines im-
materiellen Cüefens beftehen nämlich in der Erkenntnis deffen, was auf Rechnung der herrfchenden
3eitepoche zu fetten fei, und deffen, was wirklich nur als rein individuelle 3utat zu betrachten
wäre. Im graphifchen Blatte, im Bilde, in der Plaftik fpringt uns heute, die wir vorwiegend das
Individuelle horauszufehen nicht umhin können, eben das rein Perfönliche als das warme Herzblut
eines Kunftwerkes wie eines Oeuvres eines beftimmten Meifters zuerft ins Huge. In der Befruch-
tung des fo betrachteten öüerkes mit den Schwingungen unferer eigenen Perfönlichkeit liegt für
uns heute noch erft die Ermöglichung eines äfthetifchen, tieferen Genießens. Daß das nicht immer
fo war, daß zu anderen 3eiten nicht das Perfönliche bevorwortet wurde, zeigt die Kunftgefdßichte
(d)inepfche Malerei, gried)ifche Plaftik des 6. — 5. Jahrhunderts), tüir ftellen eine ftiliftißhe Ab-
hängigkeit im Motiv oder in der Ausführung fehr peinlich feft und bewerten das Cüerk dann ge-
ringer. Ip das ftets berechtigt? Liegt in diefer Gewohnheit nicht eine Einfeitigkeit, wenn wir
das einzelne Kunftwerk oder eine hißorifche Kunfterfcheinung einmal nicht unter dem Blick-
winkel des Individuums, fondern daraufhin unterfuchen, inwieweit die damalige 3ßit Anteil hatte
an der Formung des betreffenden Clerkes. Vielleicht können „pfychokritifche“ Vergleiche an Kopien
oder gar Kopienketten recht eigenartige Ergebniffe zeitigen, iüir bewerten die individuelle

Der Cicerone, XIV. Jaljrg., öe|t 9

19

387
 
Annotationen