Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 14.1922
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Heft 8
DOI Artikel:Der Graphiksammler
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F. M. Janfen. Die apokalyptifchen Reiter von 1920. Holzfchnitt.
aber aud) nie der Verfud), ganz eindeutig fcharfe Linien in den blitzenden Spiegel des Metalls
zu fchneiden, wuchtige Flächenftücke in die fdbwere Holzplatte einzukerben. Es erreidjt auch ii)n
der Ruf: Freiheit; Ausbau einer abftrakten Form weit! Seine Blätter der 3eit find zwiefpältig
fd) wankend; entweder ift die Schwungkraft der Linie umgebogen, nicht zu Ende entwickelt,
embryonal unfertig oder der Stoff wird äußerlich brutalifiert. Dann kommt der Krieg 1914. Das
3audernde, Htelierhafte fällt ab. Im ÖLlirbel der fid) türmenden und übergipfelnden Ereigniffe ift
die üotalität der Erde plötjlid) in ihm aufgeftanden: die fchöne, graufame, fatanifcße, göttliche
Beftienheimat! Mitmenfch heißt feine Forderung. So entftehen derHolzfcßnittzyklus: Der Krieg
und das Pentatychon: Du follft nicht töten, in denen er verfucht, inmitten der Räufche und Er-
nüchterungen, das ungeheuerlich) grauenhafte Gefchehen, die unerhörte Körper- und Seelenqual
zu bändigen: Schrei des Entfettens, öllut der Verzweiflung, gräßliche Gewalt des Kampfes,
Leid, üod! Hier ift vieles erftlinghaft, eindeutig, darum wahr und überzeugend; überall, wo
er fid) ganz aufgibt, ift die Einheit da, wo der „Künftler“ fid) meldet, zerfällt Inhalt und
Form. Dann eine lyrifche Atempaufe: Die Radierzyklen „Rheinifche Landfchaftenu, „Ein
Prophet“; der letztere ein phantaftifch-fehnfüchtiger Craum von Reinheit, Glut, Verfügung, Ver-
funkenheit, Kreuzigung, Krönung — öüeltumarmung, ttleltüberwindung. In feinem Dorfatelier, wo
janfen feit Kriegsende wohnt, fammeln ßd) nun die Rufe, Manifefte, Explofionen diefer Cage,
lernt er das fcheinbar d)aotifd) Äuseinanderftrebende auf einen Nenner zu bringen, fleht er die
anmarfd)ierende neue Ölleltidee, wie fie in taufend Alltäglichkeiten trübe und groß fid) auswirkt:
im H^ßblatt, Gerichtsurteil, Mordbericht, Inferat, Straßenbild, Vertierung und Aufopferung, ahnt er,
wie eine ganz andere Gefolgfchaft fid) bildet als die, woran die Kunft bis jetzt fid) wandte und
wenden mußte. So wuchs der Radierzyklus „Induftrie 1920“, in dem die grenzenlofe 3er"
mürbung des Menfchen zwifd)en Schlot- und Raud)inferno zu einer erfchütternden Menfchheits-
anklage aufwuchtet, drin das 3eitalter des Kindes, der Humanität, des Fortfdbritts, der fozialen
Fürforge fein wahres Medufenantlifz aufredet, die falfche Pl)rafe und verlogene Draperie felbft-
vergöhten Kulturhochmuts abfällt. Scharf und eindeutig find die Strid)lagen in das Metall ein-
gefchnitten ohne befchönigende, ablenkende Schnörkel. Dann folgt „DieGroßftadt“ in 20Holz-
fchnitten: Dreiviertel-Ciere, füße Asphaltbeftien mit Lues-Kavalieren, Schieber als apokalyptifd)e
Reiter, KIohltätigkeits-Sd)lemmerei, graffierender Aberglaube verdummter Oberfd)id)ten im Cifd)-
rücken und Spiritismus, Dachftuben- und Kellerelend, Protz und Krüppel: das grell erleuchtete, finnlos
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