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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 14.1922

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Heft 10
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Basler, Adolphe: Pariser Chronik
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https://doi.org/10.11588/diglit.33342#0446

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der Renaiffance. Giottot)aft berühren Cezannes „Badende“ aus der Sammlung Vollard in
einem vom Künftler felbft verfertigten Rahmen. Ingres, Delacroix, Manet, Dau-
mier find dagegen weniger vorteilhaft vertreten.
Die jungen Maler Dufresne, Lßote, de la Frenaye, Braque, Marie Laurencin
machen auf diefer Äusftellung eine weniger gute Figur als Matiffe, der wieder durch
feine Frifcße und rein natürliche Intenfität wirkt. Vielleicht hat auch der alte Matiffe
feine Kunft familiärer dargeftellt als die anderen jüngeren, wie Derain, Segonzac, die
die Ceilnaßme an diefer Äusftellung mit dem Bemerken ablehnten, daß weder Renoir
noch Cezanne, van Gogh oder Gauguin in ihrer Jugend gewagt hätten, ihre Werke
neben Corot oder Courbet zu hängen. Diefe Argumente fcheinen dem Skrupel eines
Lhote fernzuliegen. Aber fo fcßamlos und talentarm diefer Menfch auch fein mag, hat
er doch die Mittel gefunden, eine fehr intelligente Vorrede zu fchreiben, denn der eigen-
tümliche Charakter der künftlerifchen Lebensweife von heute hat es mit fid) gebracht,
daß die Maler zweiter Klaffe befähigte Kunftfchriftfteller darftellen. Diefe Vorrede
Lhotes ift natürlich eine FJuldigung an Ingres, trotjdem deffen Geift in diefer Äusftellung
weniger ßerrfcßt als der Corots. Ich kann Lhote in feinen falfchen Schlüffen über die
Lehre Ingres’, fo wie fie die Kubiften aufgefaßt haben, nicht folgen, dennoch möchte
ich hier eine Stelle aus feinem Vorwort zitieren, um die Art der Entwicklung der
modernen franzöfifcßen Malerei, fo wie fie der Künftler fleht, zwanzig Jahre nach
Meier-Graefe, zu kennzeichnen. Er fagt: „Man kann behaupten, daß mit Ingres ein
Geifteszuftand erwächft, vollftändig verfcßieden von dem, der die vergangene Epoche
charakterifiert, deren letzter Repräfentant David war. Diefer Geift zeigt fleh bei Courbet,
Manet, beftätigt fich ftark bei Monet und den Impreffioniften, fet^t feine Bewegung fort
bei den Nach- und Neoimpreffioniften, um in der ftrengen Gewalt der neuen Maler
aufzugehen, bei denen man noch von fern den Einfluß diefer Meifter wahrnehmen
kann, deren laftendes Erbe fie zu Unrecht, vielleicht aber mit Mut, übernehmen.
Wie ging es denn in Wirklichkeit vor Ingres zu? Im 18. Jahrhundert und bis David
malten die meiften Künftler nach einem beftimmten Syftem, nach einer feftgefetjten
Formel, die weniger nach innerem Gefetj als nach Rezepten aufgeftellt war. ,Id) werde
euch lehren einen Arm oder ein Bein mit Grazie zu biegen', fagte Boucher zu feinen
Schülern. Die Fleifchdarftellung mußte »frifch und mit großer Manier auf getragen' fein,
das Kleid .wunderbar hingehaud)t‘, ,die Gruppe entwickelt und zu Pyramiden geformt'
ufw. Die frivolften und zugleich koftbarften Bilder find in diefer 3^it ausgeführt — fo
erftaunlid) dies auch fcheinen mag — nach Regeln, die ebenfo rigoros waren wie
die fpäter von David angenommenen.
Der Maler der „Sabinerinnen“ trat dem Leben etwas näher. Er ftellte fein Modell
neben einen antiken Abguß und verfueßte fo ein Mittel zwifeßen dem Stil a priori und
der Natur zu finden. Den Gefcßmack feßöner Anordnungen und die Reinheit der
plaftifcßen Äusdrucksweife erbte Ingres von feinem Meifter, nur beachtet er die Antike
nicht allein als Beifpiel geiftiger Erhebung und nicht als ein wiederzugebendes Modell.
Weniger den Lehren der Vergangenheit treu, ift er mit den gegenwärtigen Bewegungen
zu ftark verbunden. Er kann fich von der Erfcßeinung nicht frei machen, ift zu feßr
Sklave der Realität, um fich zu bemühen, leichte oder ftrenge Wefenszüge zu erfaffen.
Er bemüht ficß vielmehr, die Objekte verfeßieden zu geftalten, als fie in einförmigem
Stil zu verwifeßen.
In feinem Oeuvre, in dem das Porträt einen feßr weiten Raum einnimmt, findet man
nicht zwei fjände, die fiel) äßneln. Im Gegenfatj zu feinen Vorläufern baut er feine ganze
Kunftfertigkeit auf das reine Wahrnehmungsvermögen. So ift Ingres der Beginn diefes
realiftifcßen 3eitkreifes und der innerlichen Malerei, die Chardin im vorhergehenden
Jaßrßundert in faft abfoluter Unabhängigkeit pflegte. Diefer Realismus wird bei Courbet
zum Naturalismus, bei Monet zum Impreffionismus, zum Überrealismus bei den Kubiften,
wie es ißr erfter Cßeoretiker, der Dichter Guillaume Apollinaire, mutig verkündete.

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