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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 14.1922

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Heft 16
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Lill, Georg: Eine trauernde Frauenfigur des Meisters von Eriskirch
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https://doi.org/10.11588/diglit.33342#0699

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Eine trauernde Frauenfigur desMeifters von Eriskird)
Mit zwei Tafeln Von GEORG LILL

Immer wieder taucht aus dem zur Seit mächtig fluktuierenden Kunfttjandel ein Kunft-
werk auf, das, über die Maffe des Kunftgutes hinausgehend, eine neue Bereicherung
führender 3eiten und Künftler bedeutet. So kam vor einigen Wochen in den Befitj
der Münchner Kunfthandlung Morb. Fifchmann eine ßolzfigur, die nicht nur in die Nähe
des Meifters von Eriskirch zu fetten ift, fondern fich er von feiner Fjand ftammt.
Die Figur ift aus Lindenholz gefertigt und mißt 1,10 m in der F)öt)e. Die Faffung
ift nicht mehr im Originalzuftand. Die alten Refte von Blau und Rot wurden ver-
fchiedentlid) übergangen, fonft ift die Erhaltung gut.
Außerordentlich fcplank fteigt die Geftalt empor, dabei jedoch nicht ftraff, fondern
fich weich, faft wie ein Schilfrohr, biegend. Die Rechte faßt ein Buch (weshalb man
die Frauenfigur aus ikonographifchen Gründen nicht als Maria anfprechen darf), die
Linke umfängt den Saum des gekräufelten Kopftuches. Das Fiaupt neigt fich in linder
Beugung zur linken Schulter.
Es darf wohl nicht als 3ufall ausgelegt werden, daß dem Werk des Meifters von
Eriskirch nun eine fünfte Frau in diefer tief empfindfamen Äuffaffung einzuverleiben
ift1. Die ganze Geiftigkeit des bisher unbenennbaren Meifters lebt offenfichtlid) nur
von der zart-wehmütigen Einteilung fraulichen Gefühlslebens, das fich in feelifcher
Sympathie am innigften ausfprictjt und fo recht der gemütstiefen Einteilung deutfcher
Myftik entfpricht. Diefer feelifche Inhalt als das Wefentliche für den Künftler fpricft
tch auch hier wieder in demAntlitj aus, das überrafdjend mit dem Kopfe der trauernden
Maria in der Lorenzkapelle in Rottweil übereinftimmt2. Die fchmale Stirn mit den
fchmerzhaft hochgezogenen Augenbrauen, die mandelförmigen, weitgeöffneten Augen mit
der ftarken Betonung des Cränenfackes, die lange feine Nafe mit der etwas verftärkten
Spitje, der fchmale Mund mit den leicht gefdjwungenen Linien und der etwas vor-
gezogenen Unterlippe, das kurze weiche Kinn, wie überhaupt auch ln der Formung
diefes Antlitjes die malerifd) zarte Behandlung in den Rundungen, Mund- und Nafen-
winkeln mit feinem Streben nach fraulicher Schönheit auffällt.
In der Gewandbehandlung ift die Ähnlichkeit nicht in diefem Maße groß; am weiteften
entfernt von der unruhig bewegten Faltengebung der hl- Elifabett) in Rottweil (Baum,
C. 6), auch von der mufikalifd) reicheren Gruppe ebendafelbft (Baum, C. 72) fteht fie
näher der zweiten der dortigen trauernden Frauen (Baum, C. 73), nur daß fie in der
Vereinfachung und Großzügigkeit noch einen Schritt weiter geht. Allein fct)on in der
fcheinbaren Nebenfäct)lict)keit des Kopftuches, wo bei allen drei genannten Figuren der
Saum in klammer- und S-förmigen Fältelungen läuft, während hier der Saum nur in
einigen kleinen Wellenlinien bev/egt ift. In einer großen, ftark akzentuierten Diagonal-
linie fällt das Kopftuch über die Bruft, nur mit einigen Röhrenfalten am 3>Pfel de-
korative Wirkung erftrebend. Irn Gewand und Mantel felbft befchränkt fich die Dra-
pierung auf vier klar gefonderte, tief in Licht und Schatten gefchnittene Ceile: zwei,
die die organifche Poftierung der Füße andeuten, fich aber nach unten in weiche
Schwingungen auflöfen und zwei mehr begleitende Faltenzüge, die die Röhren- und
3ickzackfaltenrnotive wie Randleiften aufnehmen. Die Fjorizontallinien find auf das ge-
ringfte befchränkt, ja im Gegenfa^ zu der Elifabett) zurückgedrängt; man fehe nur wie
die Arme mehr in den Fluß der Vertikallinie einbezogen find.
Gerade aber durch diefe Stilifierung bekommt die Figur etwas ganz bewußt Fjoheits-
volles, das fleh mit der Milde der Gefüljlsfeligkeit, aber auch des Linienrhythmus
1 Vgl. J. Baum, Gotifcbe Bildwerke Schwabens, Äugsburg 1921, passim.
2 Baum, a. a. 0., G. 75.

Der Cicerone, XIV. Jaferg., ßeft 16

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