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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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Bolhsblat

Heidelberger

Nr. 38.

Samſtag, den 11. Mai 1872.

5. Jahrg.

Erſſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 18 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schi, aaſſe 4

und ber den Trägern.

Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Der Tod um einen Fehltritt.
Von E. S.

Oft habe ich ſpöttiſcher Weiſe von den Onkels in
Amerika, als einer Art lebendiger Täuſchungen, reden hö-
ren, womit man ſeit der Entdeckung der neuen Welt ſeine
Einbildungskraft in goldene Träume einwiegte; wenn wir,
ſtatt uns mit romanhaften Hoffnungen zu ſchmeicheln und
dieſe armen Brüder unſerer Väter oder Mütter in den Zau-
ber der Ferne zu kleiden, uns ganz einfach mit unſeren
in der Provinz lebenden Onkels begnügten, ſo würden wir
zwar weniger Luftſchlöſſer auf Perlen und Goldbarren,
aber deſto mehr auf guter und feſter Erde bauen. Durch
dieſen vielleicht ein wenig langen Eingang wollte ich den
Leſer darauf vorbereiten, daß ich einen Onkel mit einer
ſchönen Erbſchaft hatte, welcher ganz proſaiſch zwiſchen
Chalons ſur Marne und Vitry le Frangais ein altes

Schloß beſaß; dieſer Onkel, der hinter den ſchmutzigſten

Fenſtern eines auf der düſterſten und kothigſten Straße
von Paris gelegenen Magazines ſein Glück gemacht hatte,

verkaufte Zucker en gros und ich habe nur eine dunkle

Erinnerung aus der Zeit, wo er ſeinen Handel betrieb;
ich erinnere mich bloß, daß alle Jahre am Tage vor dem
heil. Johannes, als ſeinem Geburtstage und den 31. Dee.
meine Mutter mich auf das Schönſte herausputzte und man
mich, verſehen mit einem ungeheuren Blumenſtrauß oder
einem mit einem blauſeidenen Bande umwundenen Glück-
wunſche zu meinem Onkel führte, welcher Gang mir re-
gelmäßig ein ſchönes Geſchenk einbrachte, das von Jahr zu
Jahr an Werthe ſtieg. ö —
Mein Onkel war der Bruder meiner Mutter, einer ar-
men Wittwe eines Notars in einer kleinen Stadt; nach
dem Tode meines Vaters hatte ſie ſeine Praxls verkauft
und war mit mir nach Paris gezogen, um mir eine beſ-
ſere Erziehung zu geben, welche ihr mäßiges Einkommen
faſt ganz aſorbirte. Wahrſcheinlich bildete man ſich ein,
daß mein Onkel, der noch Garçgon und es auch immer blei-
ben wollte, habe es für ſeine Pflicht gehalten, ſeiner ein-
zigen Schweſter mit einer Unterſtützung an die Hand zu
gehen, aber weit gefehlt; er hätte es vielleicht gethan,
wenn meine Mutter eingewilligt hätte, mich denſelben Be-
ruf, wie mein Onkel, wählen zu laſſen, allein ſie träumte
für mich von einem anderen Ruhme, als von dem, welchen
man durch Aufſtapeln eines Zuckerhutes über den andern
erlangt. Als dieß mein Onkel ſah, ſo erklärte er, daß er
ſich weder moraliſch noch materiell in meine Er-

ziehung hinführo miſchen werde und mein Onkel war ſtarr-
köpfig und hlielt Wort. Die Phrenologie hat gezeigt, daß
die ſpitzzulaufenden Schädel einen halsſtarrigen Willen hät-
ten und die Schädelform meines Onkels hatte mit einem.
Zuckerhute große Aehnlichkeit. ö
Ich zählte zwölf Jahre und war auf der Schule, als
mein Onkel ſeinen Handel niederlegte und ſein Geſchäft
ſehr vortheilhaft verkaufte; zwar muß ich ihm Gerechtig-
keit widerfahren laſſen und ſagen, daß er vor Unterzeich-
nung des Kaufes meiner Mutter den Vorſchlag machte,
das Geſchäft zu übernehmen, damit ich einſt ſeinen Platz
einnehmen könnte, und über die Verblendung meiner Mut-
ter, wie er es nannte, welche durchaus aus mir einen Ad-
vokaten .. .ohne Prozeſſe, was er ſtets hinzufügte,
machen wollte, die bitterſten Thränen vergoß.
In dieſer Zeit war es, daß mein Onkel, als er, trotz

ſeiner tiefen Verachtung gegen alle Adels- und Geldari-

ſtokratrie, aus der Kaufmannsklaſſe heraustreten wollte,
das Schloß Lacaux an ſich kaufte. Dieſes Schloß hatte
vor der Revolution 1783 einem Präſidenten im Pariſer
Parlamente gehört und mein Onkel kaufte es von einem
Verwandten, dem Erben des Präſidenten, einem ſehr ſchlech-
ten Subjekte, der es ihm aus Furcht, daraus vertrieben zu

werden, zu einem wohlfeilen Preiſe überließ. Mein On-⸗

kel benahm ſich bei dieſem Geſchäfte wie bei vielen andern,
er benutzte die günſtige Gelegenheit und bekam Lacaux mit
ſeinen ganzen Pertimentien, ſo wie man ſagt, für einen
Pappenſtiel.
Zwölf Jahre war mein Onkel ſchon im Genuß aller
Vorrechte, welche man den Schloßbeſitzern mit 70,000
Livres Renten bewilligt, als er eines Tages in der Ka-
pelle, wo er ſeinen Betſtuhl von rothem Sammet hatte,
die Meſſe hörte, das geweihte Brod aus einem ſilbernen
Becken empfing und ihn während dieſer heiligen Handlung
unerwaͤrtet der Tod überraſchte. Ich war eben in mein
vierundzwanzigſtes Jahr getreten und im Begriff, mein
Examen zu machen, als ich die Kunde von dieſem Todes-
falle erhielt. Seit der Beſitznahme des Schloſſes hatte
mein Onkel faſt alle Verbindung mit meiner Mutter ab-
gebrochen und obgleich ich ſtets meiner Pflichterfüllung ge-
gen ihn, wie ſonſt, treu geblieben war, ſo erhielten wir
doch ſelten Antworten von ihm, welche nie von dem ge-
ringſten Geſchenk begleitet waren, die unſern Hausſtand
hätten erleichtern können. Ohne daher die Falten des Her-
zens meiner Mutter ſondiren zu wollen, muß ich ſagen,
daß ich nicht das Gefühl zu ſchildern vermag, von dem
ſie beſeelt war, als ſie mir eines Winterabends bei meiner
Nachhauſekehr, wo ich ſie wie gewöhnlich an einem ärm-
 
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