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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 88 - Nr. 96 (2. November - 30. November)
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NT. 91.

Mittwoch, den 13. November 1872.

5. Jahrg.

Erſſcheint Mittwoch und Samſeag.
und bei den Trägern.

Preis monatlich 42 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerer, Schi daſſea
Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
CFortſetzung.)

Sie erlaubte Marie zu bleiben, ſagte, daß ſie, wenn
ſie es zu bezahlen vermöchte, auch ein Bett erhalten
könne und fragte nicht nach ihrer Reiſelegitimation.
Ein ſchwacher Hoffnungsſtrahl ſenkte ſich wieder in die
Bruſt des armen Mädchens. Wenn ich mich heute und
die Nacht ausruhen kann, dachte ſie, wird das Fröſteln,
das mich durchbebt, vielleicht verſchwinden. Auch kann
das Wetter ſich ja aufklären und ich dann doch noch,
mag es auch viele Tage dauern, mein Ziel erreichen.
— Sie ließ ſich von der Wirthin eine kleine Kammer
anweiſen, wo ſie ihre naſſen Kleider mit den noch trocken
gebliebenen, die ſie in dem Bündel hatte, vertauſchen
konnte. Als ſie damit fertig war, kehrte ſie in die zu
ebener Erde gelegene Wirthsſtube zurück, denn die Kam-
mer, in der ſie ſchlafeu ſollte, mußte noch erſt von der
Magd des Hauſes gereinigt werden. Da das Haus zu-
fällig von Gäſten leer blieb, ſo konnte ſie dort unbehel-
ligt bis zum Abend ihren traurigen Gedanken nachhän-
gen und ſich dann zur Ruhe begeben. Ach, es ſollte
anders kommen, als die Unglückliche dachte und wünſchte.
Um die neunte Stunde des Abends trat ein Gensd'arm
ein. Wie noch jetzt, pflegten im erſten Drittel dieſes
Jahrhunderts Gensd'armen die Dorfwirthshäuſer zu
revidiren, ob ſie nicht verdächtiges Geſindel beherberg-
ten. Er ſah das blaſſe Geſchöpf, das ſich eben nach
der ihr angewieſenen Kammer hinaufbegeben wollte und
fragte nach Marien's Paß. Sie reichte ihm denſelben

mit Herzklopfen, denn ſie erinnerte ſich der grauſamen.

Behandlung, die ihr von der Wirthin, wo ſie zuvor ein-
gekehrt, widerfahren war. Der Gensd'arm nahm das
Papier und durchlief es, ohne darauf zu achten, daß
über ſeine Schulter hinweg die Wirthin neugierig mit
hineinblickte. Er gab dem Mädchen den Paß znrück.
„Alles in Ordnung,“ ſagte er, trank ſein Glas Brannt-
wein aus, das die Wirthin ihm vorgeſetzt, ſtand auf,
verließ das Haus, beſtieg ſein draußen angebundeues
Pferd wieder und ritt davon.
„Kann ich jetzt zu Bette gehen?“ fragte Marie.
„Mich fröſtelt gar ſehr, die Wärme wird mir wohl-
thun.“ ö ö
Ach, ſie erhielt eine Antwort,

die ihr das Blut in
den Adern erſtarr machte.

Die Wirthin ſtellte ſich mit zornigen Blicken vor ſie
„In meinem Hauſe wirſt Du nie und nimmer

ſchlafen,“ ſchnaubte ſie die Unglückliche an.

„Eine Zuchthäuslerin beherbergen — das würde
meiner Wirthſchaft Unglück bringen. Hab' vor Jahren
mal ſolche Kreatur aufgenommen. Zum Dank dafür
hat ſie mir ein Kind behext. Drei Tage nachdem ſie
fort war, kriegte mein kleiner Fritz die Bräune und
mußte in's Gras beißen.“ ö ö
„Aber ſehe ich denn wie eine Hexe aus?“ fragte
Marie klagend. ö ö
„O, es gibt auch junge und hübſche Hexen,“ belferte
die Frau, die den Glauben an Heren und an die Ein-
wirkung böſer Dämons, den jetzt noch viele Landleute
in Oſt⸗ und Weſtpreußen beſitzen, theilte. „Genug,““
fügte ſie hinzu, „ich dulde Dich nicht in meinem Hauſe.“.
Sie rief der Magd. —
„Hole das Bündel dieſer Perſon aus der Kammer
herunter,“ befahl ſie. ö
Die Magd ging und kam ſchnell mit Marien's durch-
näßten Kleidern zurück. Während die Magd nach oben
gegangen, hatte Marie die Wirthin fußfällig angefleht,

ſie doch nicht in die beginnende Nacht und das ſtür-

miſche Wetter hinauszutreiben. Allein das abergläu-
biſche Weib, eine Katholikin, war unerbittlich geblieben.
„Du wirſt unterwegs wohl einen Heuhaufen, oder
eine Lehmhütte finden, wo Du hineinkriechen kannſt,“
hatte ſie geſagt. „Darin kannſt Du den Morgen ab-
warten, und dann ſehen, wie Du weiter kommſt. Mit
Deinem Unwohlſein wird's auch wohl nicht weit her
ſein. Du biſt noch jung und die Jugend kann einen
Puff vertragen.“ ö ö
Wenige Minuten darauf, nachdem Marie was ſie
em Tage und des Abends in dieſem Hauſe genoſſen,
bezahlt hatte, befand ſie ſich wieder auf der Heerſtraße.
Die Nacht war an dieſem Tage, da der Himmel
mit Wolken bedeckt war, früher, als ſonſt im hohen
Sommer der Fall, eingetreten. Der Regen, wie raſch
der Sturm auch die Wolken jagte, hatte noch nicht nach-
gelaſſen. In dieſer Dunkelheit, in der man nicht zehn
Schritte vor ſich ſehen konnte, pilgerte die Arme fort.
Mit jedem Schritte, den ſie that, fühlte fie ihre letzten.
Kräfte ſchwinden, ſtiegzdie Verzweiflung, die ſich ihrer
jungen Seele bemächtishatte. ö
„Es iſt zu viel, zu viel,“ ſtöhnte ſie. „Mach' ein
Ende mit mir, barmherziger Gott, mach' ein Ende!
Oder willſt Du,“ klagte ſie weiter, „daß ich es ſelbſt
 
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