Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

DOI Kapitel:
Nr. 97 (4. Dezember)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44618#0389

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 97.

Mittwoch, den 4. Dezember 187².

5. Jahrg.

rſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Schinga ſſea
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger. ö
(Schluß.)

Aber der barmherzige allwaltende Gott wollte den
Tod der Unglücklichen nicht. Er wollte ſie entſchädi-

gen für die unverdiente gräßliche Schmach durch ein-
Er flößte

ſpäteres ehrenvolles und glückliches Daſeiun.
dem Reiſenden, der die Arme aufhob und zu ſich in
den Wagen nahm, tiefes Mitieid für ſie ein. Nachdem
ſie ihm offen ihr trauriges Geſchick geſtanden — und

er glanbte ihr, denn ihre reinen, edlen Zügen konnten

nicht lügen — nahm er ſie mit auf ſeine Güter in
Rußland. Er gewann ſie bald lieb wie eine Tochter
und da ſie ihn in einer ſchweren Krankheit mit Auf-
opferung ihrer letzten Kräften gepflegt, und er auf Er-
den allein ſtand, ſo bot er ihr ſeine Hand an und er-
hob ſie zur Gräfin von Barikoff. Hier ſteht ſie vor
Euch, die ehemalige Marie Reiner, die unſchuldig An-
geklagte, unſchuldig Verurtheilte. Aber Engel wollen
keine Rache, ſie ſind erhaben über ſolche niederige Ge-
fühle. Sie verlangt nur ein reuiges Bekenntniß von
den Verbrechern, die ſie ſo bleich und zitternd in die-
ſem Augenblicke vor ſich ſtehen ſieht, dann will ſie ver-
geſſeu und das gräßliche Geheimniß in ihrer und mei-
ner Bruſt begraben ſein laſſen.
Der Graf hielt einige Augenblicke inne. Dann
trat er immer näher auf den Baron und Beate zu und

befahl mit donnernder Stimme, die den Verbrechern

wie die Poſaune des Weltgerichts erklang:
„Nieder auf die Kniee vor dem gemißhandelten
Engel, denn nur er kann Euch Gnade gewähren!“
Wären Beide vor Gericht von dem ſchärfſten In-
quiritenten zum Bekenntniſſe ihres Verbrechens aufge-
fordert worden, ſie hätten wahrſcheinlich hartnäckig ge-
leugnet, denn die Furcht vor entehrender Strafe hätte
ihr Gewiſſen übertäubt und ihren Mund verſiegelt.
Anders aber ſtand es hier, vor Allem in der Seele des
Barons. Durch Ankauf und Vernichtung der falſchen

Wechſel hatte Graf Barikoff ihn bereits vom Abgrunde
gerettet.

ten wolle. Wer Anders aber konnte ihn
beiſpiellos großmüthigen Entſchluß gebracht
Marie Reiner, die Alles, was ſie von ihre

emporgeſchwellt.

Derſelbe hatte geſchworen, ſein edles Werk
dadurch zu vollenden, daß er die jetzt noch im Beſitze
der Familie von Handorf befindlichen Güter i Hal-

erduldet, über die Liebe, die ſie zu ihrem früheren
Pflegevater, und die Freundfchäft, die ſie für Cäcilie
empfand, pergeſſen und ſich rächen wollte nach der
Lehre des Aöſers, der uns gebot, den ärgſten Feinden
zu verzeihen und zu ſegnen, die uns fluchen. — Der
Elende, deſſen Zähne vor innerer Angſt klappernd zu-
ſammenſchlugen, blickte noch Marie hin, die er erſt
jetzt wieder erkannte. Ruhig, ernſt, in wahrhaft er-
habener Schönheit ſtand ſie da, kein Zeichen des Zor-
nes in den edlen Zügen. Die großeu dunklen Augen
ſprühten keine vernichtende Blitze auf die bleichen ſün-
digen Geſchöpfe, die einſt ihr jugendliches Daſein ver-
giftet hatten. Wie die ewigen Sterne des Himmels
kündeten ſie Frieden und Vergebung. Noch ein kurzer
Moment angſtvollen Schweigens auf Seiten des Ba-
rons. Dann ſchlug er ſich mit der Fauſt vor die Stirn,
als ob er den feſten Bau derſelben zertrümmern wollte.
Im nächſten Augenblicke lag er zu Marien's Füßen,
dumpfe Laute murmelnd, aus denen nur das Wort
„Gnade!“ ſchwach verſtändlich hervordrang, und gleich
darauf hatte auch die tückiſche Beate dieſelbe demüthige
Stellung vor den Grafen eingenommen. Marien's Herz
wurde in dieſer Minute von wahrhaft ſeligen Gefühlen
Wie wunderbar, wie herrlich hatte
die Vorſehung fie geführt. Die Lehre ihres guten
Vaters: „Bleibe immer rechtſchaffen und treu,“ die
wie mit Flammenſchrift in ihrer Bruſt eingegraben
waren, hatte ſich, nach harten Prüfungen, an ihr be-
währt. Als überglückliche Gattin und Mutter, hochge-
ehrt in den yornehmſten Kreiſen der Welt, konnte ſie
auf die einzigen Feinde ihres Lebens verzeihend her-
niederblicken und das teufliſche Böſe mit himmliſcher
Güte vergelten. Die Worte: „Stehen Sie auf, Herr

Baron, ich verzeihe Ihnen und Beate in der Hoffnung,

daß Sie Beide ernſtlich bereuen. Wer ſo glücklich iſt,
wie ich, trägt keine Rachegedanken in der Seele,“ er-
klangen ernſt, doch mild von ihren Lippen. Dann
wandte ſie ſich zu ihrem würdigen Gatten:
„Was ſonſt noch dem Herrn Baron zu ſagen iſt,
überlaſſe ich Dir, geliebter Freund. Ich habezgetzt noch
eine Pflicht zu erfüllen.“ ö ED
Sie ſchloß die Thür auf und „Ferließ den Salon.
Alfred und Beate hatten ſich indeſihttvon den Knieen
erhoben. ö
„Sie haben mein aufrichtiges Geſtändniß empfangen,
Herr Graf,“ ſagte der Baron. „Seien Sie verſichert,
daß meine Reue ebenſo aufrichtig iſt. Bin ich auch
der irdiſchen Strafe durch die Großmuth Ihrer Gemah-
 
Annotationen