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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 44 - Nr. 52 (1. Juni - 29. Juni)
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Nr. 50.

Samſtag, den 22. Juni 1872.

5. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 42 Er. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, San

eſſed

und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Das ruſſiſche Heldenmädchen.

In den unzähligen Kämpfen, womit die Kriegsfurie
über den Erdball zog, hat die Kriegsliſt ſchon mannichfache
Arten des Angriffs erſonnen und ebenſo die Nothwehr ei-
gene Mittel der Vertheidigung erfunden; ſchon ſeit Kain's
und Abel's Zeiten hat das Genie der Menſchen ſich er-
ſchöpft um — Menſchen zu vernichten. Nicht nur grau-
ſame Werke der Kunſt hat der Menſch zu ſeinem Unter-
gauge geſchaffen, ſondern Thiere hat er gegen ſein Ge-
ſchlecht in die blutigen Schranken gerufen. Abgeſehen von
den Drachen und Hydern, Minotauren und Sphinxen, mit
denen die alten Götter und Halbgötter ſich herumbalgten,
abgeſehen von den Eſeln Inpiters, durch welche der Gott
der Götter im Gigantenkriege ſiegte, abgeſehen ſelbſt von
andern Kriegseſeln und Ochſen aus der reichen Klaſſe der
Zweifüßler, ſpielen in den Schlachten der Alten die Ele-
phanten und im Mittelalter gereizte Stiere eine bedeutende
Rolle. Karl der Kühne und die Schweizer eröffneten mit
Hunden ihr Treffen, ſelbſt Gänſe greifen durch die Ret-
tung des Capitols mit in die Kriegsgeſchichte der Römer
ein, ja ſogar Schweine retteten einſt den Prinzen Philt-
bert vor Ueberrumpelung; ſchwerlich durfte aber jemals ein

eben ſo kleiner als furchtbarer Feind auf dem Kriegsthea-⸗

ter der Menſchen erſchienen ſein, als der, der im Feldzuge
von 1812 in Rußland eine junge, ſchöne Ruſſin zum Schutz
ihres Dörfchens aufbot; Kaiſerinnen und Königinnen hat-
ten wohl ſelten ſo eifrige, ſo wüthende Kämpfer oder viel-
mehr Kämpferinnen um ſich verſammelt; weibliche Weſen,
die ein Treffen eröffneten, gegen welches die Amazonen-

kämpfe und der böhmiſche Mägdekrieg in den Hintergrund

treten müſſen.
Nachdem Napoleon auf den rauchenden Trümmern des
alten Smolensk am 17. Auguſt einen unglücklichen Triumph
gefeiert, hatten die Ruſſen, ſich weiter nach dem bedrohten
Moskau zurückziehend, das verwüſtete Land den Fremden
preisgegeben. Die franzöſiſchen Avantgarden des Herzogs
von Abrantes erreichten mit angeſtrengter Eile das zehn
Stunden lange Defilée von Valontina, wo ſie dem Feinde
zuvorkommen und ihn abſchneiden ſollten, ihn aber hinter
abgebrochenen Brücken und Barrikaden überall bereit fan-
den, jeden Schritt auf's hartnäckigſt mit ſeinen Barrika-
den zu vertbeidigen. Auf den Fluren von Valonitna
herrſchte der alte Aberglaube vom Siege für ruſſiſche Waf-
fen. Zu einem unwillkührlich begonnenen Gefechte von
einzelnen Bataillonen rückten Regimenter, Brigaden, Divi-

ſionen an und ſo entſpann ſich eine Schlacht, eine blutige
Schlacht, in welcher Compagnien aufgerieben wurden bis
auf den letzten Mann und Bataillone zu kleinen Sectio-
nen zuſammenſchmolzen. Um den theuren Kauf dieſer Lan-
desſtrecke nicht mit fränkiſchem Blute allein zu erkaufen,
hatte man zwar die deutſchen Truppen an die Spitze ge-
ſtellt, indeſſen genügte das langſame Vorrücken dem Un-
geſtüm und der ewigen Unruhe des Kaiſers nicht, der ver-
wundert die meldenden Adjutanten fragte: „Wie, 30,000
Franzoſen kämpfen vergebens? Das iſt ja eine Schlacht!“
Es wurde ſogleich ein Theil der Vordertruppen beordert,
auf einem Schleifwege in die rechte Flanke zu gehen, um
den Feind durch Bedrohung ſeiner Rückzugslinie zum Ab-
zug zu bewegen. Bei dieſer Truppenabtheilung befand
ſich der Veteran, von welchem die Bekanntmachung des
ganzen Vorfalls ſpäter ausging und der als Sergeant an
der Spitze eines Chevauxlegers-Piquets kommandirte. Der
Weg ſchlängelte ſich fort zwiſchen naſſen und ſumpfigen
Gräben und niederm Gebüſch. In der Nähe eines Dörf-
chens, deſſen Häuſer mit ihren geſchichteten Balkenwänden
und flachen Dächern durch das Gebüſch blickten, ſtießen die

Reiter plötzlich auf eine Barrikade eigner Art, die Anfangs

ihr Lachen erregte, aber bald cin ſehr ernſtlicher und be-
deutungsvoller Gegrnſtand für ſie wurde. Quer hinter
dem Weg, hinter einem aufgeworfenen Graben, lag ein
langes, ſchmales Brett, auf welchem mehrere kleine Käſt-
chen von Holz aufgeſchichtet ſtaͤnden, ſo daß bei der leiſe-
ſten Berührung dieſe herunterſtürzen mußten. Sie aus
dem Wege zu räumen, ſchien ein Spielwerk, und dennoch
konnte es nur zuletzt nur durch die Verzweiflung vollbracht
werden. — Hinter dieſer Miniaturbarrikade ſtand eine
Frauengeſtalt in ruſſiſcher Tracht. Ihr Antlitz war hin-
ter einem Viſier von Strohalmen verborgen, ſtatt der Pickel-
haube überzog ein weißes Haſenfell ihr Haupt, ſtatt der
Eiſenhandſchuhe trug ſie ein künſtliches Baſtgeflecht und
ein Stäbchen führte ſie als Speer. Dabei ſtand ſie ver-
trauensvoll auf ihre Schutzwehr, ja, wie es ſchien, ſelbſt
mit einem Trotze, der nur aus dem Bewußtſein der Ue-
berlegenheit über den eben anrückenden Feind entſpringen
konnte. In einiger Entfernung gebot ſie den Franzoſen zu
halten und umzukehren, wenn ſie nicht auf feindliche Weiſe
in die Flucht gejagt ſein wollten. Eine eigenes Vorge-
fühl, eine böſe Ahnung hielt ſie in der That eine Weile
auf. Der Sergeant vermuthete, die Käſtchen ſeien mit
Pulver gefüllt, eine Art von Höllenmaſchine, durch welche
ſich die Heldin mitſammt dem Feinde in die Luft ſprengen
wollte. ö ö
Bald nahte ſich jedoch ein größerer Trupp der franzö-
 
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