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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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Nr. 43.

Mittwoch, den 29. Mai 1872.

5. Jahrg

Secheint Mittwoch und Samſcag.
und bei den Trägern.

Preis monatlich 12 kr.

Einzelne Nummer à 2 kr.
Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Man abonnirt in der Druckereti, Scheaeſſe4

Der Schließer zu Norwich.
Novelle von J. N. Vogl.
(Fortſetzung.)

Richard Skenny war der Sohn eines wohlhabenden
Kaufmannes zu Yarmouth, deſſen Verluſt er jedoch ſchon
in ſeinen Jünglingsjahren zu bedauern hatte. Hoddes-
don, ſein Oheim, welcher die Verwaltung ſeines Vermö-
gens übernommen hatte, wurde bald durch daſſelbe geblen-
det und ſuchte ſeinen Neffen, um freieres Spiel zu haben,
zu entfernen. Er ſchickte ihn nach London auf die Uni-
verſität, und glaubte damit den erſten Schritt gethan zu
haben. Richard, welcher bier ſich ſelbſt überlaſſen, bald
in ſchlechte Geſellſchaft gerathen war, vernachläſſigte ſeine
Studien, die er mit Eifer begonnen und mußte eines leicht-
fertigen Streiches wegen aus London flüchten. Ohne Geld,
wier er war, nahm er ſeine Zuflucht zu Hoddesdon und
ſchrieb dieſem die rührendſten Briefe, in welchen er ihm
ſein ganzes Elend ſchilderte: die aber unbeantwortet blie-
ben. Dennoch war es ihm nach vielen Mühſeligkeiten ge-
lungen, nach Varmouth zu kommen. Ein heftiger Auf-
tritt zwiſchen Onkel und Neffen fand ſtatt, welcher zur
Folge hatte, daß ihm Jener verbot, je mehr ſeine Schwelle
zu betreten. Richard fand in Yarmouth einen Jugend-
freund, Namens Thurnbull, welcher ſich ſeiner an-
nahm und ihm rieth, zu den Gerichten ſeine Zuflucht zu
nehmen. Vergebens; ohne Erfahrung, ohne Geld, fand
er keinen Rechtsfreund, welcher ihn vertreten wollte.
Aufrichtige Thränen weinte die Schweſter Thurnbull's,
Kätty, dem bedauernswürdigen Geſchicke des armen Ri-
chard; und bald erblühte aus dieſem Gefühle ein noch
viel innigeres, welchem ſich Beide hingaben und dem auch
unkluger Weiſe Richards Freund, welcher bald darauf Yar-
mouth verlaſſen mußte, keine Schranken ſetzte. Das Beſte
von der Zukunft erwartend, waren beide Liebende leicht-
fertig genug, ein Ehebündniß zu ſchließen, welches ſie nur
noch unglücklicher machen mußte. Bereits erfreute ſie ein
Pfand der Liebe; aber die wechſelnden Bedürfniſſe, welche
Richard nicht mehr zu beſtreiten vermochte, und mehrere
mißlungene Unternehmungen deſſelben ſteigerten ſeinen Un-
muth, ſeine Unzufriedenheit und ſeinen Groll gegen Hod-
desdon, deſſen Groll ihm die einzige Klippe ſchien, an wel-

cher das Schifflein ſeines Glückes ſcheiterte, zur höchſten

Potenz. In einer Nacht, in welcher Richard ſeine innere
Zerfallenheit in einer Taverne zu betäuben ſuchte, begeg-

Inete er ſeinem Oheim auf dem Heimwege in einer einſa-
men Gaſſe.

Ein heftiger Wortwechſel entſpinnt ſich zwi-
ſchen Beiden. Richard, vor Wuth ſchnaubend, riß den
Degen aus der Scheide; Hoddesdon entfloh. Richard ver-
folgte ihn durch mehrere Gaſſen. Bereits außer ſich ge-
bracht, hatte er jetzt den Flüchtigen erreicht, und bemerkte
es nicht, daß ſich ihm Leute näherten.
„Mörder! Mörder!“ kreiſchte der Verfolgte; aber ſchon
ſank er, von Richards Eiſen getroffen, ſchwer verwundet
zur Erde. Die Leute ſtürzten herbei; es waren die Con-
ſtables, welche die Streifwache hatten. Sie entwaffneten
Richard, brachten den Verwundeten, welcher die Beſinnung
verloren hatte, in eines der Nachbarhäuſer unter und führ-
ten den Erſteren vor den Sheriff. Mehrere Wochen ſaß
hierauf Richard im Gefängniſſe, ohne daß ſein Loos ent-
ſchieden worden wäre. Hoddesdon, deſſen Wunde nicht
toͤdtlich war, und der wichtige Verbindungen hatte, wußte
jedoch die Gerichte zu täuſchen und beſchuldigte Richard des
Raubmordes. Richard wurde in Folge dieſer Angabe von
der Grand Jury zu zehnjähriger Deportation nach Bo-
tany⸗Bay verurtheilt, welche Strafe auch über ſeine Gat-
tin, die Hoddesdon als Verführerin Richards und eigent-
liche Urſache des Mordverſuchs angeklagt hatte, verhängt
wurde. Beide wurden daher mit einem und demſelben
Transporte nach Norwich abgeführt und die einzige Ver-
günſtigung, die man der unglücklichen Gattin Richards
zugeſtand, war: ihr Kind mituehmen zu dürfen. In Nor-
wich hatten ſie nur ſo lange zu bleiben, bis ſie mit den
übrigen Verbrechern nach Plymouth transportirt würden'
Richard ſowohl als Kätty fühllen nun erſt das Schreck-
liche ihrer Lage, die ganze Größe ihres Elendes. Ihr
einziger Troſt, welcher in die Schauernacht ihres Unglückes
wie ein ferner freundlicher Stern durch rollendes Sturm-
gewölke hereindämmerte, war: zuſammen nach Südame-
rika transportirt zu werden und in einem fernen Erdwin-
kel ihr Leid vereint zu ertragen. Der alte John und
Dorothea tröſteten die Beiden, welche durch geſittetes Be-
nehmen und ſtille Ergebung in ihr Geſchick, ihr tiefſtes
Mitleid rege gemacht hatten, ſo weit es ihre Pflicht er-
laubte; vorzüglich aber nahm ſich die Letztere des ſchuld-
loſen Weſens an, welches den Namen ihres verſtorbeneu
Sohnes, ihres William, führte und verpflegte es mit der
Sorgfalt und Zärtlichkeit einer Mutter.
So war endlich der Tag angebrochen, an welchem John
die weiblichen Sträflinge nach Plymouth zu bringen hatte.
Dieſes eröffnete er auch am Vorabende ſeiner Abreiſe dem
unglücklichen Richard. Nun war alle Hoffnung für ihn
verloren. Er warf ſich auf ſein Lager, raufte ſich ſein
 
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