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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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Nr. 37.

Mittwoch, den 8. Mai 1872.

5. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſeag.
und bei den Trägern.

Preis monatlich 42 kr. Einzelne Nummer à 2 kr.

Auswärts bei den Landboten und Woſtanſtalten.

Man abonnirt in der Druckerei, Schi aeſſe

Die Eisgrube. ö
Ein Gemälde aus der Schreckenszeit der franzöſiſchen Revolution
mitgetheilt von Seebalde.

Schluß).

„Ich habe einen nahen Verwandten zu betrauern!“
rief ich ſchmerzlich aus; „der Verſtorbene war meines Va-
ters Bruder!“
Hierauf machte ich den Doktor mit meinen Familien-
verhältniſſen näher bekannt, und da er verſicherte, daß es
wirklich die Schlacht bei Roßbach geweſen ſei, in welcher
der Jüngling damals gefangen und von ſeinem Bruder
getrennt wurde, ſo blieb mir kein Zweifel, wohl aber die
volle Gewißheit, meinen unglücklichen, längſt verlorenen
Onkel in ſeiner Todesſtunde wieder gefunden zu haben.
Ach, ich war unausſprechlich ergriffen. — Der Arzt
ſuchte mich durch die Verſicherung zu beruhigen, daß der
Verſtorbene lange Jahre in der glücklichſten Ehe alle Freu-
den des Lebens empfunden hätte. ö
„Um mit einem Male aus ſeinem Himmel herabge-
ſtürzt und dem entſetzlichſten Jammer preisgegeben zu wer-
den!“ fiel ich heftig ein. — „O, jetzt verſchweigen Sie
mir ſeine Leiden! erſt will ich die theuren Ueberreſte noch
einmal ſehen, die erblaßten Lippen küſſen, die nahe ver-
wandten Züge mir tief einprägen und dann die abgezehr-
ten Hände, die mich im Todeskampfe ſo väterlich umfaß-
ten, mt meinen Thränen netzen.“
Niichts von dem erſchütternden Auftritte, den der Arzt
mit dem beſten Willen, allen Vorkehrungen und der ängſt-
lichſten Beſorgniß für meine Geſundheit, nicht verhindern
konnte. Ich erlag, wie er gefürchtet hatte, den allgewal-
tigen Gefühlen dieſer herzzerreißenden Scene. Der heftige
Fieberrückfall verhinderte mich, dem ehrenvollen Leichenbe-
gängniſſe meines Oheims beizuwohnen. — Dort ſchläft er
nach einem ſturmbewegten Leben, fern vom deutſchen Va-
terlande, auf dem Friedhofe zu Avignon unter Cypreſſen
und Trauerweiden, ſeinen langen Schlaf. —
Wochen vergingen, ehe der Arzt mich völlig wiederher-
geſtellt erklärte und meine dringenden Bitten, mir die Lei-
densgeſchichte des Verſtorbenen bekannt zu machen, zu er-
füllen wagte. Mit Enthuſiasmus ſchilderte er mir den
vortrefflichen Charakter meines Onkels, der zwanzig Jahre
lang der beneidenswertheſte Gatte und Vater war und die
höchſte Achtung in ganz Avignon genoß. Allgemein be-
trauerte man den frühen Tod ſeiner liebenswürdigen Ge-
mahlin. „An ihrem Sterbelager machte ich des edelſten

Herzen.

Mannes Bekanntiſchaft“, fuhr der Arzt fort, „und bald

verband die innigſte Freundſchaft unſere nahe verwandten
Wir ſahen ans täglich. Ich ſuchte die finſtere
Melancholie, die ſich ſeiner Seele durch den unerſetzlichen
Verluſt bemächtigt hatte, nach Kräften zu verſcheuchen.
Meine Bemühungen blieben nicht fruchtlos. Er faͤßte ſich,
wie ein Mann, den die Härte des Schickſals zwar beu-
gen, aber nicht vernichten kann, der noch heilige Pflichten
für ſeine Kinder hat. Sich ihrer Erziehung ganz zu wid-
men, nahm er ſeinen Abſchied vom Militär. Drei hoff—⸗
nungsvolle Jünglinge, Muſter des Fleißes, verſprachen der
Stolz ſeines Alters zu werden. —
Da brach die für Frankreich ſo unglückliche Revolution
aus. Avignon hat vorzüglich viel von dem Zerſtörungs-
ſyſtem dieſer Schreckenszeit gelitten. Mehrere furchtbare
Mordſcenen ſind hier vorgefallen. Die Guilotine wüthete
in unſerer Stadt. Banden der verworfenſten Menſchen
ſchwärmten umher. Jeder rechtliche Bürger mußte vor den
Barbaren zittern — denn nur das Laſter triumphirte. Gott
weiß, durch welche freimüthige Aeußerung der jüngſte Sohn
Ihres Onkels die Aufmerktamkeit dieſer Raſenden auf ſich
gezogen hatte. Man fällt ihn wüthend auf der Straße
an, als er, um auszugehen, aus ſeines Vaters Haus tritt.
Der zweite Bruder ſieht aus dem Fenſter die unwürdige
Behandlung des Wehrloſen. Ihm zu Hülfe eilt er, mit
einem Säbel bewaffnet. Kühn wirft er ſich den Blutgie-
rigen entgegen. Beide erliegen der Uebermacht. In ihrer
Bruſt wüthen die Meſſer und Dolche der Mörder. Sie
werden zur Glacière (Eisgrube), das ſchreckliche Grab ei-
ner Menge unglücklicher, unſchuldiger Männer und Frauen
geſchleppt. Es iſt dieß ein hoher, viereckiger Thurm, von
deſſen Grunde man inwendig bis unter das Dach ſehen
kann; und nur hie und da ſind einige Balken zwiſchen die
vier Mauern, um ſie zu ſtützen, eingeſpreizt. Auf drei
Viertel ſeiner Höhe ſteht er an einem hohen Theil der
Stadt, einer Art Wall, an. Hier wurden an dieſem Tage
über achtzig Schlachtopfer, theils ermordet, theils auch nur
ſchwer verwundet und dann, mehrere noch halb lebend, in
die grauenvolle Tiefe des Thurms hinabgeſtürzt, um ihre
Leichname ſchnell verſchwinden zu laſſen.
Eben haben die Henker ihr Meiſterſtück der Hölle voll-
bracht — da ſtürzt der verzweifelnde Vater herzu — mit
donnernder Stimme fordert er ſeine Söhne zurück. —
Man zeigt unter teufeliſchem Hohngelächter auf die Gla-
ciére — man verſpottet den armen Mann. „Führt den
Narren nach Hauſe!“ rufen mehrere Sanscülotten. Er
wird von den Wüthrichen ergriffen, halb ohnmächtig nach
ſeiner Wohnung geſchleift. Gaſſendrut, der niedrigſte Pö-
 
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