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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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Nr. 42.

Samſtag, den 25. Mai 1872.

5. Jahrg

Echeint Mittwoch und Samſcoag. Preis monatlich 18 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schi gaſſe
ö und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Der Schließer zu Norwich.
Novelle von J. N. Vogl.

CEin trüber melancholiſcher Oktobertag hatte ſeinen au-
genloſen, ſchwarzumhangenen Grabbeſtatter, einer nicht min-
der unfreundlichen, naßkalten und nebeligen Nacht, ſchon

ſeit ein paar Stunden ſeinen Platz eingeräumt, als der

alte John Simpſon, der Schließer von Norwich, mit
ſeiner Dorothea am Kamine ſaß und von ſeinem müͤ⸗
hevollen Tagewerk bei einer Flaſche Porter ausruhte. Das
Feuer im Kamin loderte luſtig auf und warf ſeinen ro-
then Schimmer auf die entgegengeſetzte Stubenwand, welche
voll großer und kleiner Schüſſeln, Leuchter, Handeiſen u.
dgl. hing, und beleuchtete dabei zugleich die beiden Alten,
die unfern deſſelben, faſt ſchon am Ziele ihrer Lebensreife,
in zufriedener Vertraulichkeit bei einander ſaßen und ſich
über die Vorfälle des Tages und über die Begebenheiten,
die ſie zunächſt betrafen, beſprachen.
„Ja, Mutter Dorothea,“ nahm der alte John das
Wort, „es iſt ſo, wie ich Dir ſage! Der Court of Kings-
Bench thut Alles, um dieſe elenden Geſchöpfe, deren Ver-
wahrung zum Theile auch mir anvertraut iſt, zu beſſeren
Menſchen umzubilden. Du weißt, wie groß ihre Anzahl
iſt; Du weiſt, daß faſt alle Gefängniſſe, ſowohl in Lon-
don als Norwich, vollgefüllt ſind mit ſolchen Bedauerns-
würdigen. Ihre Verpflegung fällt immer mehr dem Staate
und — was freilich nichts ſagen will! — auch mir zur
Laſt. Um dieſem Allem abzuhelfen und zu verhindern, daß
ſie nicht nach Beendigung ihrer Strafzeit von Neuem ein
verbrecheriſches Leben beginnen, hat das Parlament be-
ſchloſſen, mehrere Colonien in Neu-Südwales zu errichten
und meine Pfleglinge dorthin zu deportiren. Schon ſind
zwei Transporte von Newgate und Kings⸗Bench dahin ab-
gegangen und bald wird ſich ein engliſches Dorf an der
Jackſon s⸗Bai erheben; auch ich erhielt bereits von dem
Gouverneur den Befehl, meine weiblichen Sträflinge bis
20. Oktober nach Plymauth, ihrem Einſchiffungsorte zu
bringenn“ ö
„In dieſer ſchlechten Jahreszeit!“ ſeufzte Dorothea.
„Sieh' nur, John, daß Du Dich nicht auf der Fahrt ver-
kühlſt; ſchlinge ja das zothe Wollentuch um den Hals und
vergiß nicht, die diken, Frauen Strümpfe anzuziehen.“
„Werde ſchon!“ lächelte der Alte. „Du weißt, ich bin
kein ſo gar zarter Complexion. Auch, denke ich, wird mein
Geſchäft in Plymouth bald abgethan ſein. Die größere

Zahl meiner Pfleglinge beſteht aus Männern; Weiber zähle
ich dermalen nur drei.“
„Ich weiß,“ erwiederte Dorothea: „die freche Lucia
Flitt, Marianna Shadwell und die Irländerin Ellen Fitz-
roi in Nr. 3.—
„Eben dieſe. Die Männer gehen erſt mir dem zwei-
ten Transporte. Na, da wird es wohl um Vieles ruhi-
ger werden in den Gefängniſſen am Plym und der alte
Schließer wird dann ungeſtörter ſein Gläschen Bier hin-
unterſchlürfen können! Gieb Acht, Alte,“ fuhr er mit mun-
terer Laune fort, „für uns kommen noch die beſten Tage!“
„Wenn es nur ſo bleibt, wie es jetzt iſt,‚“ erwiederte
die Alte, „und ich Dich nicht verliere, John! — Ach, was
bliebe mir dann noch auf der weiten Welt?“ — Unſere
Bethſy und William ſind uns vorausgegangen und —“
„Und — ſchlafen einem beſſeren Sein entgegen“, ver-
ſetzte John. „Es waren gute, fromme Kinder, die uns
viele Freude machten; ſowie Du ein gutes braves Weib
biſt, Dorothea.“ Mit dieſen Worten reichte er ihr die
Hand über den Tiſch hin, die ſie zärtlich drückte. „Na,
tröſte Dich, wir kommen ja bald zu ihnen; und dann ſind
wir wieder Alle beiſammen, wie vorher. Den Troſt ha-
ben wir: der Herr machte uns die Prüfung nicht ſchwer
in unſerem kleinen Wirkungskreiſe; wir werden mit eben
ſo leichtem Herzen, wie unſere Kinder, hinübergehen.“
Dorothea wiſchte ſich die Augen; der alte John aber
ergriff ſein Glas und trank, eine heimliche Thräne, die
die dem Andenken ſeiner vor wenigen Jahren verſtorbener
Kinder galt, in demſelben verbergend. Da lärmte die
Glocke am großen Einfahrtsthore. „Ei, noch ſo ſpät Be-
ſuch?“ ſagte John, indem er ſein Glas auf den Tiſch
ſetzte: Wer mag noch kommen?“
„Gewiß wieder neue Koſtgänger,“ erwiederte Doro-
thea. Und ſchon auch erſchollen Männertritte und das Ge-
klirre einer Säbelſcheide auf den Steinplatten vom Gange
herein; die Thür öffnete ſich und die Anführer der Con-⸗
ſtables, Hardy, eine kräftige Figur mit Federbuſch und
Säbel, trat in die Stube.
„Guten Abend, alter John!“ ſprach dieſer, dem Al-
ten die Hand hinreichend. „Nicht wahr, eine ſpäte Viſitte?
— Aber Noth kennt kein Gebot und die Pflicht keine
Stunde, das weißt Du wohl, alter Kerkerrabe.“
Vun, was bringt Zhr wieder nach Norwich, Hardy?“
fragte John.
„Es ſind dießmal nur
Dritthalbe.“
„Wie ſo?“ fragte John neugierig.
„Nu, ein Mann, ein Weib und ein Kind.“

Zwei, oder, noch beſſer geſagt,
 
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