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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 79 - Nr. 87 (2. Oktober - 30. Oktober)
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Nr. 84.

Samſtag, den 19. Oktober 1872. — 5. Jahrg.

Ar cheint Mittwoch und Samſeag. Preis monatlich 22 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonntrt in der Druckeret, Sthengeſſei
und ber den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten. ö

Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
(Fortſetzung.)

Freilich werde auch ich mein Bündel ſchnüren müſ-
fen — mit dem Herrn Alfred iſt nicht zu ſpaßen. Aber
klingen noch die mir verſprochenen hundert Louis'dor
in meiner Börſe, ſo beſitze ich genug, um mich gut in
der Reſidenz zu ſituiren und lache über die Wuth, die
mir nicht mehr ſchaden kann.“ ö ö
Indeſſen war Marie, ohne Jemand von der Diener-
ſchaft begegnet zu ſein, auf ihrem Zimmer angelangt.
Ihr Kopf brannte fieberhaft, ihre Pulſe flogen noch
ebenſo heftig, als in dem Momente, wo ſie die freche
Liebkoſungen des jungen Barons hatte erdulden müſſen,
*da ihre Kräfte nicht ansgereicht, ſich derſelben erwehren
zu können. War ihr auch, ſeitdem ſie kein Kind mehr,
die Ahnung gekommen, es gäbe noch eine andere Liebe,
als die, welche zwiſchen ihr, den Pflegeeltern und der
Erzieherin beſtand, ſo ſchwebte dieſelbe ihr doch als ein
reines heiliges Gefühl vor der Seele, frei von jeder
ſinnlichen Schlacke. Umſomehr mußte ihr die ſtürmiſche
Zudringlichkeit Alfred's in hohem Grade verabſcheuungs-
würdig erſcheinen. Waren ihre Thränen ſchon im Gar-
ten gefloſſen, allein auſ ihrem Zimmer ſloſſen ſie von
Neuem und noch heftiger. Sie wußte nicht, was ſie be-
ginnen ſollte, um vor dem Sohne ihres Pflegevaters
Schutz zu finden, wenn diefer ſie wiederholt verfolgen
würde. Sollte ſie, was ihr geſchehen, dem Freiherrn
oder Alfred's Mutter mittheilen? Ihr Kopf rieth dazu,
aber ihr Herz ſagte nein. Es flüſterte ihr zu: „Du
würdeſt Unfrieden und Zwietracht in dem Hauſe aus-
ſäen, wo man Dich an Kindesſtatt aufnahm und eine
lange Zeit des Glücks gewährte, wollteſt Du Alfred
anktagen. Alſo ſchweige, ſchweige, und, wenn das Schick-
ſal es gebietet, ſo ziehe lieber arm, wie Du hierher
gekommen, in die Welt hinaus, anſtatt Deine Pflege-
eltern zu betrüben.
durch eigene Kraft fortzubringen, und der gute Gott,
der bisher mit Dir war, wird Dich nicht verlaſſen.“
Schon am nächſten Tage ſuchte Beate Gelegenheit,
Marie allein zu ſprechen.
Es war nicht allzuſchwer ſolche zu ſinden, da ihr
die Gemüthsſtimmung des jungen Mädchens zu Hülfe
am. ö ö ö
Marie pflegte nämlich ihre Erzieherin, die wenn

Du haſt genug gelernt, um Dich

ſie mehrere Stunden des Morgeus unterrichtet hatte,
eine kurze Erholung auf einem Spaziergange im Gar-
ten zu ſuchen gewohnt war, zu begleiten. An dieſem

Tage aber blieb ſie auf ihrem Zimmer. Sie hatte von

dem Fenſter aus geſehen, daß der junge Baron im
Garten war und, wie es ſchien, dem Gärtner Befehle
bezüglich einer neuen Anpflanzung ertheilte. Sie fürch-

tete von ihm geſehen zu werden. Was ſie den Tag

vorher von ihm hatte erdulden müſſen, ſtand wie ein
Schreckgeſpenſt vor ihrer Seele. Sie wußte, ſeine Nähe
würde ſie mit Schauder erfüllen. So blieb ſie, hefti⸗—

gen Kopfſchmerz vorſchützend — es war die erſte Un-

wahrheit in ihrem jungen Leben — zurück.
Fräulein Herbert bedauerte ihre Schülerin und ver-
ſprach, nach einer Viertelſtunde wieder bei ihr zu ſein.
Das Kammermädchen aber hatte an der Thür ge-
lauſcht und deuttich gehört, was geſprochen worden.
Als die Gouvernante über den Corridor fortgeſchrit-
ten war, beſchloß Beate, die Viertelſtunde ſo viel wie

möglich zu benutzen. Ohne vorher anzuklopfen, ſchlüpfte

ſie zu Marie in's Zimmer.
Dieſe erſchrak, als ſie Diejenige ſah, welche Zeuge
bei dem geweſen war, was geſtern im Garten vorge-
follen.
Aber die heuchleriſche Miene, die Beate annahm,
beruhigte ſie ſchnell. ü
„Ich komme, liebe Marie,“ ſagte dieſe, „Sie um
Verzeihung für die Worte zu bitten, dieſſh Ihnen ge-
ſtern nachgerufen. Ich habe ſelbſt auich geſcholten
und die halbe Nacht nicht ſchlafen könne[MMß ich glaubte,
Sie hätten dem Herrn Baron Geletenheit gegeben zu
dem, was er — na, wir wollen jetzt nicht weiter da-

von ſprechen, denn ich ſehe, daß es Ihnen Schmerz ver-

urſacht. Hat der Herr Baron mich doch ſelbſt vom Ge-
gentheil überzeugt. Nicht wahr, liebe Marie, Sie ver-
zeihen mir, da ich es mit Thränen bereue, Ihnen weh'
gethan zu haben?“
Das fchlaue Geſchöpf zog ihr Taſchentuch aus der
Schürze und drückte es an die Augen.
Marie war zu arglos, zu gutmüthig,
dieſer Bitte nicht hätte willfahren ſollen.
Sie reichte Beate die Hand.
„Weinen Sie nicht, gutes Mädchen,“ verſetzte ſie.
„Ich glaube ihren Worten. Aber ich bitte, berühren
Sie dieſe Sache nicht mehr — ich denke nur noch mit
Entſetzen daran.“. ö
Beate nahm neben Marie, die auf dem Sopha ſaß,
Platz, faßte deren Hand und ſtreichelte ſie. ö

als daß ſie
 
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