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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 79 - Nr. 87 (2. Oktober - 30. Oktober)
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Nr. 82.

Saamſtag, den 12. Oktober 1872.

5. Jahrg.

Erſſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 48 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Schiigaſſel
ö und bei' den Trägern. Auswärts bet den Landboten und Poſtanſtalten. —

Die Zuchthäuslerin.
ö Novelle von J. Krüger.
(Fortſetzung.)

Daß Frau von Handorf Marie zur Vorleſerin in
den Stunden nach der Abendmahlzeit gewählt, iſt ſchon
erzählt worden. Sie entſprach dieſem Amte, ſo weit
ihre erſt im Werden begriffenen Kenntniſſe es geſtat-
teten, ganz zur Zufriedenheit der gnädigen Frau. Ging
dieſe in den Morgenſtunden ſpazieren, was gewöhnlich
ſchon in aller Frühe geſchah, mußte Marie ſie begleiten,
fuhr ſie aus, mußte die Kleine einen Platz in der ele-
ganten Equipage neben ihr einnehmen.
Aber dieſe Gunſtbezeugungen erſtreckten ſich noch
weiter.- — ö
Marie hatte, als ſie aus dem Hauſe ihres Vaters
in das Schloß gekommen, ihre ärmlichen Kleider mit

einfachen, aber aus guten Stoffen verfertigten Trauer-

kleidern vertauſchen müſſen.

ö Der Freiherr hatte ihr
ſolche natürlich geſchenkt.

Als das Trauerjahr um

ihren Vater zu Ende, erhielt ſie farbige Kleider, aber-

von ſolchem Stoffe und ſolchem Schnitte, wie ſie für
die Tochter eines Schullehrers paßten. Von allen weibͤ—
lichen tadelnswerthen Eigenſchaften war Herrn von Han-
dorf die Eitelkeit verhaßt und er wollte ſein Pflegekind,
wie zärtlich er es auch liebte, von dieſem Gebrechen,
das für deſſen Zukunft verderblich werden konnte, frei
erhalten. ö
Anders aber dachte die gnädige Frau.
In der Fülle des Reichthums aufgewachſen, hatte
ſie ſich in ihren Mädchenjahren und ebenſo ſpäter, als
die Gemahlin eines begüterten Edelmannes, mit ver-
ſchwenderiſcher Pracht gekleidet und ſah es auch gern,
wenn ihre weibliche Dienerſchaft modern elegant ein-
herging. Marie aber wurde von ihr nicht als Diene-
nerin, ſondern als eine Art lebendiges Spielzeug be-
trachtet, wie eine Puppe, die zu putzen ihr Vergnügen
gewährte. Gegen den Willen ihres Gatten ließ ſie theure
Stoffe und eine geſchickte Schneiderin aus der Stadt
kommen. Ehe vierzehn Tage vergingen war Marie wie
ein kleines Edelfräulein gekleidet, der es zum. Ueber-
fluß auch an einer werthvollen, ihr von ihrer Gebiete-
rin geſchenkten Perlenſchnur und ſchönen goldenen Ohr-
gehängen nicht fehlte. Als Marie in dieſer glänzenden
Metamorphoſe zum erſten Male vor den großen Trü-
meau des Prunk,immers im Schloſſe trat — die gnä-

dige Frau hatte ſelbſt ſie dahin geführt — da lächelte
ſie in kindiſcher Freude, wie das G etchen in „Fauſt,“
wenn dieſe ſich mit der verhängnißvollen goldenen Kette
ſchmückt, und drehte ſich hin und her, ihr holdes ſtrah-
lendes Selbſt mit einem Anflug von Eitelkeit bewun-
dernd. Zum erſten Male fiel es ihr ein, daß ſie ein
hübſches Kind ſei, mit dem ſich keines der Kinder in
dem Dorfe, wo ſie aufgewachſen, meſſen konnte. Arme
Marie! wollte der Himmel, dieſer Gedanke wäre im
Keime erſtickt, denn aus ihm ſollte die böſe Frucht her-
vorgehen, die viele Jahrelang Dein Leben vergiftete.
Von der gnädigen Frau gleichſam verhätſchelt, von
dem Freiherrn und der Frau von Herbſtau, die ihre
Eltern oft beſuchte und dann Marie auf einige Tage

zur Geſellſchaft mit nach ihrem Landgute nahm, väter-

lich und ſchweſterlich geliebt, von der Erzieherin gleich-
ſam vergöttert und ſelbſt von der Dienerſchaft mit Aus-
nahme der Kammerzoſe Beate, die ihr heimlich grollte,
weil ſie wähnte, ſie ſei aus der Gunſt ihre Herrin
verdrängt, neidlos angeſehen, verlebte die Tochter des
armen Schulmeiſters nun volle vier Jahre auf Han-
dorf, ohne daß nur eine Stunde des Kummers ihre
Tage trübte. In dieſer Zeit war das Kind zur Jung-
frau herangeblüht, und die Schönheit der Jungfrau
überſtrahlte noch weit die früheren unentwickelten Reize
des Kindes. Alle Welt und ihr Spiegel ſagten ihr das.
Wenn ſie jetzt ein wenig ſtolz auf die Segnungen der
Natur und die Bildung wurde, die ſie der trefflichen
Erzieherin zu danken, war deshalb ein Stein auf ſie
zu werfen? Hatte ſie das doch weniger als ihre Umge-
bung verſchuldet, die ihre Schönheit pries und ihren
Geiſt bewunderte. Aber dieſe ſie beherrſchende Eitel-

keit trug ſie nur im Innern, auch wurde dieſelbe von

der Reinheit ihres Weſens und einer unbeſchreiblichen
Herzensgüte reichlich aufgewogen. Was ſie dem ſeligen
Vater einſt verſprochen, gut und rechtſchaffen zu bleiben
durch's ganze Daſein, das ſtand, wie mit leuchtender
Schrift geſchrieben, ſtets vor ihrer Seele, und die Leh-
ren der wackern Gouvernante und ihres Pflegevaters
hatten ſie noch in dieſem Vorſatze bekräftigt. Welche
Verſuchungen auch auf ſie einſtürmen möchten, ſie trug
die Gewißheit in ſich, ſie zu beſiegen. ö

Viertes Kapitel.
Schickſalswendungen.

Der Leſer iſt bereits davon unterrichtet, daß die
Kammerzoſe Beate, obwohl ſie von der gnädigen Frau
 
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