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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 79 - Nr. 87 (2. Oktober - 30. Oktober)
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Eulelberger

6



Nr. 85.

Mittwoch, den 23. Oktober 1872. 5. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 tr. Man abonnirt in der Druckeret, Schraaſſe4
— Nund ber den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten. ö

Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
Fortſetzung.)

In der That war in dieſer Antwort auch keine Un⸗—
wahrkeit enthalten. In nicht wenigen Nächten war ihr
der junge Baron im Traume erſchienen und zwar im-
mer in Geſtalt eines wilden Dämons, der ſie mit ſei-
nen Umarmungen erdrücken wollte, zuweilen aber auch
ſie aufhob und unter gräßlichem Gelächter mit ihr durch
die Luft davonflog.

Ihre Pflegeeltern verſuchten alles Mögliche, ſie auf-

zuheitern. Herr von Handorf erbot ſich ſogar, mit ihr
auf Reiſen zu gehen, in der Hoffnung, eine Verände-
rung der Luft würde ihr wohlthun und was ſie Neues
und Intereſſantes ſehen und kennen lernte, würde ſie
zerſtreuen und ihr die Welt wieder in roſigem Lichte
erſcheinen laſſen. Marie bat ihren Pflegevater, von
dieſem Vorſchlage abzuſtehen.
„Haben Sie Geduld mit mir, lieber Papa,“ ſagte
ſie. „Wenn die böſen Träume erſt einmal wieder auf-
hören, dann werde ich auch meinen alten Frohſinn zu-
rückgewinnen. Ich weiß, ich bin eine Thörin, daß ich
mich ſo vor der Zukunft ängſtige, und ich will mich auch
bemühen, dieſe Angſt zu bekämpfen. Aber ich darf Schloß
Handorf nicht verlaſſen. Es ſpricht Etwas in mir, daß
mir außerhalb dieſer ſchützenden Räume, ich weiß nicht
was für ein Unfall begegnen würde.“
Endlich ſchlug der Greis ihr vor, ſeinen Hausarzt
kommen zu laſſen, da der Grund ihrer verdüſterten Ge-
müthsſtimmung doch in einem geheimen körperlichen Un-
wohlſein liegen könne. Allein Marie warf ſich in ſeine
Arme und beſchwor ihn mit Thränen, nicht nach dem
Doctor zu ſchicken.
„Die Zeit wird in meiner Seele Alles wieder zur
Ruhe bringen,“ rief ſie. „Aber auch nur die Zeit, nichts
Anderes auf der Welt.“
Aber dieſe Worte gingen nicht in Erfüllung.
Mit jedem Tage wurden die Wangen des jungen
Mädchens bläſſer, ihr Weſen ſcheuer und ängſtlicher.
Oftmals verließ ſie ihr Zimmer auf mehrere Tage nicht,
mußte ſie aber doch auf den Wunſch ihrer Pflegeeltern,
die für ihre Geſundheit fürchteten, den Garten betreten,
ſo that ſie es niemals allein. Sie bat dann die Er-
zieherin, ſie zu begleiten, aus Furcht, der Sohn des
Hauſes könne hinter irgend einem Baume oder einem

hält.

Buſche hervorſtürzen und ſie, wie der Dämon ihrer
Träume, in ſeinen Armen zu Tode preſſen.
Vergebens bemühte ſich das liſtige Kammermädchen,
dem Herrn Alfred in die Gunſt des von ihm erkornen
Opfers hineinzuſchwatzen, vergebens ſchilderte ſie Marien,
daß der junge Baron ſie bis zum Wahnſinn liebe, daß
er gedroht habe, ſich aus Verzweiflung ſelbſt den Tod
zu geben, wenn ſie kalt gegen ihn bliebe; vergebens
ſuchte Beate ſie zu bereden, ihm wenigſtens eine kurze

Zuſammenkunft zu bewilligen, bei welcher ſie Zeugin

ſein wolle. ö ö
„Wenn ſie ihn ſelbſt hören, Marie,“ ſagte ſie, „ſo
werden Sie vielleicht Mitleid mit dem armen jungen
Herrn fühlen, der ein ganz anderer Menſch geworden
iſt, als er früher war. Sonſt war er heftig, wild, auf-
brauſend bei jeder Gelegenheit, jetzt iſt er die Sanft-
muth ſelbſt. Er iſt förmlich zum Schwärmer verwan-
delt, geht im Mondſchein im Schloßgarten ſpazieren,
ſieht nach Ihren Fenſtern hinauf und ſeufzt den Na-
men Marie. Ach, der Arme wird vor Gram vergehen,
wenn Sie, ſeine Lebensflamme, unerbittlich gegen ihn
bleiben.“ ͤ ö ö
Die Angſt, in der Marie beſtändig ſchwebte, erreichte
endlich den höchſten Gipfel, indem es dem jungen Wüſt-
ling gelang, eine kurze Abweſenheit des Fräuleins Her-
bert mit Beatens Hülfe zu benutzen und zu ihr in's
Zimmer zu dringen.
Marie war vor Schrecken einer Ohnmacht nahe, da
ſie ihn plötzlich vor ſich ſtehen ſah. Keine Hülfe in der
Nähe, denn Alfred's Vater machte den zu ſeiner Ge-
ſundheit dienenden täglichen Spazierritt. Wie der Ver-
folger mit flammenden Augen ſie erblickte, zuckte ſie
zuſammen. Eine entſetzliche Ahnung durchſchauerte ſie.
So zittert die ſcheue Taube, wenn ſie den Raubvogel
über ſich erblickt und keine Rettung mehr für möglich
Unwillkürlich ſchlangen ſich ihre Hände in ein-
ander. Sie ſank auf beide Kniee, als wenn ſie ihn
anflehen wollte, ihrer Jugend, ihrer Unſchuld zu ſchonen,
aber ihre Lippen blieben ſtumm. Wo hätte ſie in die-
ſem Augenblicke auch Worte hernehmen ſollen?
Alfred, wie roh und wild er auch ſonſt war, und
wie hoch und theuer er auch ſich ſelbſt geſchworen hatte,
daß Marie ſein Liebchen werden ſollte, der Anblick des
an allen Gliedern zitternden bleichen Engels dämpfte
doch in dem Grade ſeine frechen Begierden, daß er Ma-
rie nicht mit Ungeſtüm von der Erde aufriß und in
ſeine Arme zog.
Sich an dem noch immer unausſprechlich ſchönen
 
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