Mittwoch, den 16. Oktober 1872.
5. Johrg.
Erſſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerer, Sche ga ſſe 4
und bet den Trägern.
Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
Cajhortſetzung)
Sich nur mit Mühe zurückhaltend, murmelte er vor
ſich hin:
„War ich denn bis jetzt mit Blindheit geſchlagen,
daß mir die Schönheit dieſes Mädchens uicht in dem
Lichte, wie heute, erſchien? Ah, dieſes Antlitz, dieſe
dunkeln Augenſterne, dieſer Wuchs, dieſe runden herr-
lich geformten Arme! Wem ſie ſich um den Nacken
ſchlingen, dem müſſen die Sinne vor Entzücken verge-
hen. Und was ſollte mich abhalten, alles das zu ge-
nießen, was ſpäter irgend einem trockenen Philiſter zu
Theil wird? Bin ich nicht der Sohn des Hauſen, wo
ſie, das Kind eines bettelhaften Schulmeiſters ein Loos
gefunden, um das manches aus hohem Stande entſproſ-
ſene arme Mädchen ſie beneiden würde. ö
nen Eltern die größte Dankbarkeit ſchuldig. Dieſe Dank-
barkeit muß ſie auch auf mich übertragen. Sie muß,
ich will es! Und wie ich die Frauenzimmer kenne, wird
ſie ſich nicht allzulange ſträuben und bald die Ehre zu
ſchätzen wiſſen, den Sohn des reichen Freiherrn von
Handorf zum Liebhaber zu beſitzen.“
Eben hatte Alfred dies flüſternde Selbſtgeſpräch be-
endet, als Marie ſich umwandte um den Weg zurück
zum Schloſſe zu nehmen.
Jetzt iſt es Zeit, dachte der junge Baron. Kein
Zeuge in der Nähe, faſſen wir die Gelegenheit beim
Schopf. 5
Er trat raſch hinter dem Buſche hervor und auf
Marie zu.
Sie hatte ſeine Nähe nicht geahnt und fuhr er-
ſchrocken zurück.
„Was erſchrickſt Du, Kind? ſagte Alfred. „Glaubſt
Du, ich wollte Dir ein Leid zufügen?“
Das Mädchen ſuchte ſich zu faſſen. ö
„Wie vermöchte ich das, gnädiger Herr?“ verſetzte
ſie. „Habe ich ſie doch niemals beleidigt und —“
„Im Gegentheil,“ ſiel Alfred ihr raſch in's Wort,
„Du haſt Dich meinen Eltern und mir gegenüber ſtets
als cinen ſanften, holden Engel gezeigt, den ich zu
ſchätzen, nein, was ſoll das kalte todte Wort — zu
lieben gedrängt, bin.“ ‚
Sie iſt mei-
Marie ahnte in ihrer Unſchuld die Bedeutung der
letzten Worte nicht.
Ihn unbefangen anſehend, erwiederte ſie:
„Sie ſind ſehr gütig, Herr Baron, was Sie mir da
ſagen, macht mir Freude, ja, recht innige Freude.“
Der Wüſtlingergriff ſchnell ihre Hand.
„Iſt das Dein Ernſt, mein Püppchen?“
„Ganz gewiß, Herr Baron.“
„Ei, was da, Herr Baron! Ich bin ja Dein Bru-
der — Dein Pflegebruder. Den mußt Du nicht ſo kalt
und förmlich Herr Baron nennen, Alfred heiße ich. O,
es würde ſüß klingen, flüſtertͤeſt Du mir einmal die
Worte: Süßer, lieber Alfred! zu. Dann dürfte ich
Deine ſchlanke Geſtalt umfaſſen, Deine roſigen Lippen
an diegmeinen ziehen und Dich küſſen, Marie, Dich
küſſenHeurig, glühend — wie ich noch kein Weib ge-
küßt habe.“
Während dieſer Worte hatte er ſie immer näher
an ſich gezogen, ſo daß ſein heißer Athem in's Antlitz
brannte und ſeine flammenden Augen die ihren zwan-
gen, ſich erſchrocken zu ſchließen.
Ein heftiges Zittern ergriff das ſo ungeſtüm be-
drängte MädchenIhre ſonſt gerötheten Wangen nah-
men die Farbe des Purpurs an. Sie verſuchte es, ſich
ihm zu eutziehen. Aber wo hätte das zarte Geſchöpf
die Kraft hernehmen ſollen, ſich den ſtarken Armen die-
ſes robuſten Jünglings zu entwinden? Von namenlo-
ſer Angſt dutchbebt, mußte ſie es dulden, daß er ſie
ſo feſt umſchlang, daß es ihr den Athem benahm und
ſeinen Mund zu einem nicht endenwollenden Kuſſe auf
ihre Lippen heftete. Da ertönte plötzlich ein lautes höh-
niſches Lachen in Beider Nähe.
Alfred in ſeinem Sinnentaumel hörte es nicht; wohl
aber hörte es Marie. Sie machte eine verzweifelte An-
ſtrengung, ſich von ihm loszureißen, und es gelang ihr.
Die Augen voll Thränen, die rechte Hand auf ihr Herz
gedrückt, deſſen heftiges Klopfen ihr die Bruſt zu zer-
ſprengen drohte, floh ſie davon wie ein verwundetes
Reh, dem es glückt, den Zähnen eines Jagdhundes zu
entrinnen, der es würgt.
Bei dieſem Forteilen kam ſie an Beate vorüber, welche
zufällig in den Garten gekommen war, ihren hochge-
borenen Liebhaber auf einer ſie ſchwer kränkenden Un-
bhate ertappt und vorerwähntes Gelächter ausgeſtoßen
atte. ö
„Ei, da erfährt man ja ſaubere Geſchichten,“ rief
Beate der Fliehenden nach. „Die gnädige Herrſchaft
wird eine große Freude haben, wenn ſie hört, wie ſich
die liebe Unſchuld von dem Herrn Baron küſſen läßt.
Ha, ha, ha! Es iſt zum Todtlachen!“ ö
5. Johrg.
Erſſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerer, Sche ga ſſe 4
und bet den Trägern.
Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
Cajhortſetzung)
Sich nur mit Mühe zurückhaltend, murmelte er vor
ſich hin:
„War ich denn bis jetzt mit Blindheit geſchlagen,
daß mir die Schönheit dieſes Mädchens uicht in dem
Lichte, wie heute, erſchien? Ah, dieſes Antlitz, dieſe
dunkeln Augenſterne, dieſer Wuchs, dieſe runden herr-
lich geformten Arme! Wem ſie ſich um den Nacken
ſchlingen, dem müſſen die Sinne vor Entzücken verge-
hen. Und was ſollte mich abhalten, alles das zu ge-
nießen, was ſpäter irgend einem trockenen Philiſter zu
Theil wird? Bin ich nicht der Sohn des Hauſen, wo
ſie, das Kind eines bettelhaften Schulmeiſters ein Loos
gefunden, um das manches aus hohem Stande entſproſ-
ſene arme Mädchen ſie beneiden würde. ö
nen Eltern die größte Dankbarkeit ſchuldig. Dieſe Dank-
barkeit muß ſie auch auf mich übertragen. Sie muß,
ich will es! Und wie ich die Frauenzimmer kenne, wird
ſie ſich nicht allzulange ſträuben und bald die Ehre zu
ſchätzen wiſſen, den Sohn des reichen Freiherrn von
Handorf zum Liebhaber zu beſitzen.“
Eben hatte Alfred dies flüſternde Selbſtgeſpräch be-
endet, als Marie ſich umwandte um den Weg zurück
zum Schloſſe zu nehmen.
Jetzt iſt es Zeit, dachte der junge Baron. Kein
Zeuge in der Nähe, faſſen wir die Gelegenheit beim
Schopf. 5
Er trat raſch hinter dem Buſche hervor und auf
Marie zu.
Sie hatte ſeine Nähe nicht geahnt und fuhr er-
ſchrocken zurück.
„Was erſchrickſt Du, Kind? ſagte Alfred. „Glaubſt
Du, ich wollte Dir ein Leid zufügen?“
Das Mädchen ſuchte ſich zu faſſen. ö
„Wie vermöchte ich das, gnädiger Herr?“ verſetzte
ſie. „Habe ich ſie doch niemals beleidigt und —“
„Im Gegentheil,“ ſiel Alfred ihr raſch in's Wort,
„Du haſt Dich meinen Eltern und mir gegenüber ſtets
als cinen ſanften, holden Engel gezeigt, den ich zu
ſchätzen, nein, was ſoll das kalte todte Wort — zu
lieben gedrängt, bin.“ ‚
Sie iſt mei-
Marie ahnte in ihrer Unſchuld die Bedeutung der
letzten Worte nicht.
Ihn unbefangen anſehend, erwiederte ſie:
„Sie ſind ſehr gütig, Herr Baron, was Sie mir da
ſagen, macht mir Freude, ja, recht innige Freude.“
Der Wüſtlingergriff ſchnell ihre Hand.
„Iſt das Dein Ernſt, mein Püppchen?“
„Ganz gewiß, Herr Baron.“
„Ei, was da, Herr Baron! Ich bin ja Dein Bru-
der — Dein Pflegebruder. Den mußt Du nicht ſo kalt
und förmlich Herr Baron nennen, Alfred heiße ich. O,
es würde ſüß klingen, flüſtertͤeſt Du mir einmal die
Worte: Süßer, lieber Alfred! zu. Dann dürfte ich
Deine ſchlanke Geſtalt umfaſſen, Deine roſigen Lippen
an diegmeinen ziehen und Dich küſſen, Marie, Dich
küſſenHeurig, glühend — wie ich noch kein Weib ge-
küßt habe.“
Während dieſer Worte hatte er ſie immer näher
an ſich gezogen, ſo daß ſein heißer Athem in's Antlitz
brannte und ſeine flammenden Augen die ihren zwan-
gen, ſich erſchrocken zu ſchließen.
Ein heftiges Zittern ergriff das ſo ungeſtüm be-
drängte MädchenIhre ſonſt gerötheten Wangen nah-
men die Farbe des Purpurs an. Sie verſuchte es, ſich
ihm zu eutziehen. Aber wo hätte das zarte Geſchöpf
die Kraft hernehmen ſollen, ſich den ſtarken Armen die-
ſes robuſten Jünglings zu entwinden? Von namenlo-
ſer Angſt dutchbebt, mußte ſie es dulden, daß er ſie
ſo feſt umſchlang, daß es ihr den Athem benahm und
ſeinen Mund zu einem nicht endenwollenden Kuſſe auf
ihre Lippen heftete. Da ertönte plötzlich ein lautes höh-
niſches Lachen in Beider Nähe.
Alfred in ſeinem Sinnentaumel hörte es nicht; wohl
aber hörte es Marie. Sie machte eine verzweifelte An-
ſtrengung, ſich von ihm loszureißen, und es gelang ihr.
Die Augen voll Thränen, die rechte Hand auf ihr Herz
gedrückt, deſſen heftiges Klopfen ihr die Bruſt zu zer-
ſprengen drohte, floh ſie davon wie ein verwundetes
Reh, dem es glückt, den Zähnen eines Jagdhundes zu
entrinnen, der es würgt.
Bei dieſem Forteilen kam ſie an Beate vorüber, welche
zufällig in den Garten gekommen war, ihren hochge-
borenen Liebhaber auf einer ſie ſchwer kränkenden Un-
bhate ertappt und vorerwähntes Gelächter ausgeſtoßen
atte. ö
„Ei, da erfährt man ja ſaubere Geſchichten,“ rief
Beate der Fliehenden nach. „Die gnädige Herrſchaft
wird eine große Freude haben, wenn ſie hört, wie ſich
die liebe Unſchuld von dem Herrn Baron küſſen läßt.
Ha, ha, ha! Es iſt zum Todtlachen!“ ö