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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 88 - Nr. 96 (2. November - 30. November)
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Nr. 90.

Samſtag, den 9. November 1872.

5. Jahrg.

Zercheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 18 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerer, Sch,auſſea
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
(Fortſetzung.)
Siebentes Kapitel.
Die letzten Prüfungen.

Zwei Jahre waren vergangen. Die unſchuldig Ver-
urtheilte hatte wieder die Freiheit, deren Klang dem
Ohre des armen Gefangenen wie Sphärenmuſik ertönt,

für Dich unglückliche Marie hatte ſie nichts Beſeligen-

des, denn Du hatteſt keine Heimſtätte, der Du zupilgern
konnteſt, keine Verwandte und Freunde, welche Dir,
auch wenn ſie Dich ſchuldig geglaubt, verzeihen und
barmherzig aufnehmen würden. Die beſte Freundin
Deines Lebens, Deine Erzieherin, hatte mit einer rei-
chen Familie Europa verlaſſen und war nach der neuen
Welt gereiſt, wohin Du ihr, auch wenn Du ihren Auf-
enthalt gewußt hätteſt, doch mittellos nicht zu folgen
im Stande warſt. Würdeſt Du, als ſich Dir die ſchwe-
ren Pforten des Gefängniſſes öffneten, und Deine gräß-

liche Verlaſſenheit ſich Dir offenbarte, voller Verzweif-

lung Dich in das nächſte beſte ſchäumende Gewäſſer ge-
ſtürzt haben, wer Dich gekannt, wer da gewußt, was
Du unſchnldig gelitten, würde keinen Stein auf das Grab
der Selbſtmörderin geworfen, ſondern Dir eine Thräne
aufrichtigen Mitleids geweint haben.
Es war mitten im Sommer, als Marie ein kleines
Bündelchen unter dem Arme, das ein paar nothwendige
Kleidnugsſtücke in ſich barg und mit einer kleinen Summe
Geldes derſehen, die ſie ſich im Gefängniſſe von dem
kurzen Lohn, den ſie für mühſelige geiſttödtende Arbeit
erhalten, erſpart, wieder in, die offene Welt zurückkehrte.

Es war im Sommer, ſagen wir. Aber leider hatte er“

in dieſem Jahre ſeinen Namen nicht verdient. Rauhe
Winde, wie ſie gewöhnlich nur im Spätherbſte über die
ihres Segens beraubten Felder brauſen, vermiſcht mit
ſtrömendem Regen, der ſchon Wochenlang anhielt, drück-
ten die hochſtehenden Kornfluren darnieder und ſchlugen
die halbreifen Früchté von den Obſtbäumen. Die Land-
ſtraßen in dieſer nördlichen Gegend waren mit Koth
und Waſſer bedeckt. Auf einer ſolchen Straße hatte
nun die jugendliche Dulderin zu wandern, deren Kör-
per von der dumpfen Zellenluft, der anſtrengenden Ar-
beit, der mageren Koſt, ach und noch mehr von ſchwe-
rem Seelenleiden ſchwach und kränklich geworden. Es

holen.

Leid überwinden.““ Und ich bin es gebkieben-

war ein trauriger Anblick, wie die zarte, bleiche Mäd-
chengeſtalt vor der Pforte des Gefängniſſes ſtand, dem
unverdienten martervollen Aufenthalt noch einen Blick,
den letzten, zuwarf und dann den ſchwachen Fuß an-
ſetzte, um nun ir dem ſtürmiſchen Wetter einer unge-
wiſſen Zukunft entgegenzugehen. Indem ſie langſam
fortſchritt, ſagte ſie zu ſich ſelbſt:
„Wohin nun, Unglückliche, wo hin? Du ſtehſt ganz
allein und verlaſſen auf Erden. Wer wird die Zucht-
häuslerin aufnehmen, an der das Brandmal der Schande
haftet? Womit ſollſt Du Dich ernähren, wenn Dein
weniges Geld aufgezehrt? Wird man Dir Arbeit ge-
ben, wenn man erfährt, daß Du eine entlaſſene Sträf-
lingin biſt? Ach, wohin Du blickſt, tiefe, troſtloſe Le-
bensnacht, von keinem Hoffnungsſchimmer erhellt. Und
doch mußt Du ausharren und die Prüfung ertragen,
die Gott Dir auferlegt, willſt Du Dich nicht einer Sünde
ſchuldig machen, die Dir der Himmel nie verzeihen würde.

Vorwärts denn, richte Deinen ſchwachen Muth empor!
Vielleicht findeſt Du auf Deinem Wege doch eine barm-

hrrzige Seele, die für Dein Uunglück ein offenes Ohr
hat und Dir helfend die Hand reicht. Haſt Du doch
einſt, als Dein armer Vater geſtorben und Du eine
verlaſſene Waiſe warſt, einen Helfer in der Noth ge-
funden. Wenn es Gottes Wille, wird ſich das wieder-
Mein ſterbender Vater ſagte mir ja: „Bleibe
gut und rechtſchaffen, mein Kind, und Du wirſt 10106
ſelbſt
im Kerker, wo böſe Mitgefangene Alles anwendeten, um
mit ſchlechten Lehren mein Herz zu vergiften. Ich bin
es geblieben und werde es bleiben bis zum Ende mei-
nes Lebens.“
Das arme, ſchwache Geſchöpf kam nur langſam vor-
wärts. Ganz durchnäßt und vor Kälte ſchauernd, ver-
mochte ſie an dem Wege nicht mehr als zwei Meilen
zu machen. Nachdem ſie durch mehrere Dörfer gekom-
men, wo ſie ſich nothdürftig mit Speiſe und Trank er-
quickte, gelangte ſie in eine kleine Stadt, die an der
Landſtraße lag, welche nach der Reſidenz führte, denn
dahin beabſichtigte ſie zu gehen. Dort, das hatte ſie
im Gefängniſſe gehört, gab es wohlthätige Vereine, die
ſich entlaſſener Gefangenen, die gute Zeugniſſe von der
Zuchtanſtalt empfangen, annahmen und für ihr Fort-
kommen ſorgten. An irgend einen ſolchen Verein wollte
ſie ſich wenden. ö
Nachdem ſie in der kleinen Stadt in einem wohl-
feilen Gaſthofe übernachtet, trat ſie mit beginnendem
Morgenauf's Neue ihren Weg an.
 
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