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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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Heidelberger

Mittwoch, den 15. Mai 1872.

5. Jahrg.

cheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schi ga ſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Der Tod um einen Fehltritt.
Von E. S.
(Fortſetzung.)

„Ich habe ihr Portrait zu Hauſe, mein Herr“, fuhr
der gutmüthige Arzt fort, „das ich Ihnen, wenn Sie es
wünſchen, dieſen Abend zeigen will; dann können wir auch
zuſammen in die Kapelle gehen, wo ihr Grabmal iſt, das
ihr der Herr Präſident mit großen Koſten hat errichten
laſſen.“ Herr Nichaud legte auf die letzten Worte einen
ironiſchen Nachdruck. ö
„Liebte ſie ihr Gatte nicht?“
„Alle Welt ſagte, er bete ſie an, mein Herr!
„Aber Sie ſcheinen mir nicht dieſer Meinung zu ſein,
Doctor und Sie wiſſen darum, glaube ich, mehr, als Sie
ſagen wollen!“4
„Leider! mein Herr; durch unſern Stand berufen, in
das Innere der Familien zu dringen, haben wir mehr als
irgend Jemand Gelegenheit, das unter ihnen herrſchende
Elend zu ſchauen, ſei es ein phyſiſches oder moraliſches,
und da trifft man oft ſehr großes, mein Herr, das ſich
unter Feſtkleidern verbirgt und dem Volke ein lachendes
Geſicht zeigt. Oft ſchlägt unter einem Blumenbouquet ein
Herz, an dem eine tödtliche Wunde frißt und man be-
klagt das ſchöne und reiche Weib, welches im zwanzigſten
Jahr in einem bleiernen Sarge ſchläft, ohne zu ahnen,
daß hier vielleicht die Ruhs für ſie erſt ihren Anfang ge-
nommen hat.“
Der Doctor ſprach dieſe Worte in einem ungewöhnlich
begeiſterten Tone, der mich auf die Wichtigkeit und den
Ernſt ſchließen ließ, welchen er auf alles das legte, was
Frau v. Adhemar betraf.
„Ich werde das erwähnte Bild mit Vergnügen ſehen,“
ſprach ich, „aber ehe der Abend kommt, haben wir noch
Zeit genug dazu, die Kapelle zu beſuchen; überdieß erfülle
ich dadurch auch eine Pflicht gegen die Ueberreſte meines
Onkels, der meines Wiſſens gleichfalls in dieſer Kapelle
beigeſetzt worden iſt. ö
Herr Nichaud antwortete nicht, er war nachdenkend und
ſchien von dem warmen Eifer ſeiner Rede erſchöpft; er
ſtand vom Tiſche auf, nahm ſeinen Hut und wir gingen
nach der Kirche.
Das Schloß Lacaux hatte urſprünglich einem Ritter
angehört, von dem ſich alle Tradition verloren hatte, aber
es war leicht zu ſehen, daß es in der Art erbaut worden
war, um einen etwaigen Angriff auszuhalten; drei ſeiner

Thürme ſtanden noch Derich trotz der großen mo-
dernen, in die dicken Mauern Angebrachten Fenſter konnte
man errathen, daß ſich ehemals an ihrer Stelle Schieß-
ſcharten befunden, hinter denen ſich mehr als ein Bogen-
ſchütze poſtirt hatte. Der eine Thurm hauptſächlich ſchien
unzugänglich, wegen des ungeheueren mit Waſſer ange-
füllten Grabens, der ſeinen Fuß umgab und noch heut-
zutage von der in geringer Eutfernung von Lasaux vor-
belfließenden Marne bewäſſert wird. Vermittelſt einer
Schleuſe konnte der Graben in Zeit von einer Stunde ab-
gezogen und wieder gefüllt werden. Wenn man durch den
Hof aus dem Schloſſe geht, iſt man gezwungen, einen
Bogen zu machen, um nach der. Kirche zu gelangen und
längs des Grabens hinzugehen, der den einen Schloßflü-
gel umgibt. Als wir vor dem erwähnten Thurme vor-
beikamen, blieb Herr Nichaud ſtehen und mit der Hand
nach einem Fenſter mit ſtarken Eiſengittern zeigend, ſagte
er: „das war das Zimmer der Frau Präſidentin“ und
griff mit der Hand nach ſeinem Hute. ö
Wir langten in der Kirche an, die Thüren ſtanden
offen, ein alter Sakriſtant läutete zu einer Taufe und
Die
Kapelle enthielt eine Gruft, wo ſeit undenklichen Zeiten
die Herren von Lacaux beigeſetzt wurden. Nur der Präſi-
dent v. Adhemar hatte in Folge eines wunderlichen Ein-
falles, den Jedermann der Größe ſeiner Liebe zugeſchrie-
ben, in der Kapelle zur Rechten des Altares ein beſonde-
res Grabmal bauen laſſen: eine ſilberne Lampe, gehalten
von einem Engel, der mit ausgebreiteten Flügeln über den
letzten Schlummer der Frau v. Adhemar zu wachen ſchien,
brannte immerwährend; es war dieß eine Stiftung, welche
zugleich mit den Meſſen, die man für die Ruhe der Seele
des Präſidenten und ſeiner Gemahlin leſen mußte, allen
ferneren Beſitzern von Lacaux zur Laſt fiel.
Nachdem ich für meinen Onkel gebetet und beklagt
hatte, daß ſein Betragen bei ſeinen Lebzeiten nicht dazu
geeignet war, mir eine innigere Trauer um ſeinen Tod

einzuflößen, warf ich mich an den Stufen des Grabmals

der Frau v. Adhemar auf die Kniee nieder, wo ſchon Herr
Nichaud lag und fühlte mich hier, ohne allen Grund, für
dieſe Frau intereſſirt, deren Leben ich nicht einmal kannte,
und von einem andächtigen Gefühl des Mitleids ergriffen,
das mein Herz beengte und meine Augen mit Thränen

netzte. Wer überdieß ſollte in meinem Alter nicht weich

geſtimmt werden, wenn er auf einem Grabe die Worte
liest: „Geſtor ben im zweiundzwanzig ſten Jah-
re!“ Zweiundzwanzig Jahre! ſind nicht dieſe zwei Worte
für einen jungen Mann mit Glück und Hoffnung gleich-
 
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