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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 44 - Nr. 52 (1. Juni - 29. Juni)
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Nr. 45.

Mittwoch, den 5. Juni 1872.

5. Jahrg.

cheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr.

und bet den Trägern.

Einzelne Nummer à 2 kr.
Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Man abonnirt in der Druckerei, Schiſanſſe 4

Ein Irrlicht.
Von S. Junghans.

„Wo er nur bleibt?“ dieſe Worte wurden in leiſem,
troſtloſem Tone geſprochen, und die blaſſe, ältliche Frau,
welche ſie ſagte, ſah dabei — zum wievielten Male wohl
an dieſem Abend! — nach der Uhr über der Kommode.
Das Zimmer, in welchem ſie mit ihrer Tochter ſaß,
war nett und wohnlich, mit altmodiſchen, wohlerhaltenen
Möbeln ausgeſtattet. Die ſchneeweißen Vorhänge an den
Fenſtern, das leuchtende Damaſttuch auf dem Tiſche und
ein Ueberfluß von gehäkelten Decken auf Sophakiſſen und
Seſſeln zeugte von dem Ordnungsſinn und den fleißigen
Händen der Bewohnerinnen. ö
Die Tochter, welche arbeitend vor der Lampe geſeſſen
hatte, wendete jetzt den Kopf nach der Thür und horchte.
„Er kommt, Mutter“, ſagte ſie und dann ſchloſſen ſich ihre
Lippen feſt und öffneten ſich auch nicht, als bald darauf

raſchen Schrittes ein junger Mann eintrat und Mutter

und Schweſter begrüßte. ö
Auch die Frau erwiederte ſeinen „Guten Abend“ ziem-
lich kalt und ein unbehagliches Schweigen trat ein, was
übrigens Richard kaum zu bemerken ſchien. Er hatte ſei-
nen Hut aufgehängt und ſich an den Tiſch geſetzt; die Zei-
tung, welche vor ihm lag, ergriff er, aber ohne ſie zu le-
ſen; offenbar waren ſeine Gedanken noch immer ganz wo
anders als in dem kleinen Zimmer.
Es war ein hübſcher Burſche mit offenem Geſicht, dem
man die Bewegung leicht abmerkte, in welcher er ſich be-
fand. Endlich ſah er in die Höhe und begegnete einem
beſorgten Blick ſeiner Mutter. „Du biſt lange ausgeblie-
ben, Richard“, ſagte ſie, und man hörte eine ganze Welt
von Fragen aus dieſen Worten heraus.
»Ich wurde aufgehalten, Mutter.“
Wieder eine Pauſe. „Darf man fragen, wo Du ge-
weſen biſt?“ brach die Schweſter endlich das Schweigen.
„Ich war eine Zeit lang im Theater und ging dann
mit Berthold und einigen Andern unter den Linden ſpa-
zieren.“ — Daß unter dieſen „Andern“ einige Damen
vom Corps de Ballet zu verſtehen ſeien und daß man die
Linden ſehr bald verlaſſen hatte, um in einem der erſten
Reſtaurants der Stadt zu ſoupiren, verſchwieg der junge
Mann ſeiner Mutter einſtweilen. ö ö
Richard war der einzige Sohn der Beamtenwittwe; die
Schweſter zählte zehn Jahre mehr als er; ſie war ein früh
verdüſtertes Mädchen, deſſen herben Charakter die Jahre

der Entbehrung nach des Vaters Tode eben nicht gemil-
dert hatken. Erſt in der letzten Zeit war die Exiſtenz der
kleinen Familie eine behaglichere geworden, ſeit Richard,
welcher die Handlung erlernt hatte, einen Gehalt bezog,
von dem er liberaler Weiſe zur Beſtreitung des Haus-
haltes beiſteuerte. ö
Richard war der Stelz und die Hoffnung der Wittwe
und des alternden Mädchens; die Mutter hegte nicht den
leiſeſten Zweifel daran, daß er noch einmal reich und an-
geſehen werden und den Vatersnamen zu hohen Ehren
bringen werde. Wenn ſie dabei, neben den Chancen des
Handels auch an eine vortheilhafte Heirath für den Sohn
dachte, welche ihm mit einem Schlage ein Kapital zufüh-
ren ſollte, wer konnte es ihr verargen? Richard war ſo
hübſch, guthmüthig und liebenswürdig! Wenn er zu den
Bällen der Kaufmannſchaft ging, in dem ſeiner ſtattlichen
Figur ſo günſtigen Schwarz, die ehrlichen braunen Augen
leuchtend vor Erwartung, wenn er vor dem Spiegel ſtand
und ſich noch einmal unternehmend durch die krauſen Haare
fuhr, dann ſahen ihn die beiden Frauen bewundernd an;
es ſchien ihnen nur zu natürlich, daß eine jede junge Dame
dann in die größte Gefahr kommen mußte, ihr Herz an
ihn zu verlieren.
Seit einiger Zeit aber machte Richard ſeiner Familie
Sorge. Er war weniger zu Hauſe als ſonſt und wenn
dort, erſchien er bald einſilbig und zerſtreut, dann wieder
ausgelaſſen luſtig; es war etwas zwiſchen ihn und Mut-
ter und Schweſter getreten, ein Etwas, von dem ſeine gute
und üble Laune, ſein Glück und ſeine Traurigkeit allein
noch abhing.
„Richard iſt verliebt“, hatte Schweſter Dorothee eines
Tages mit kalter Miene geäußert. Die Mutter ſah ſie
erſtaunt an. „Warum ſollte er uns das nicht ſagen?“
meinte ſie. Dorothee ſeufzte; ſie hatte die plötzliche Thea-
terleidenſchaft des Bruders bemerkt und ſich allerhand zu-

ſammengereimt, aber ſie behielt dieſe Befürchtungen für ſich.

„Mutter“, ſagte Richard an jenem Abend, nachdem er
lange ſchweigend geſeſſen hatte, in entſchloſſenem Tone, „ich
möchte mit Dir reden.“ Dabei ſah er unſtät umher, wäh-
rend ein ängſtlicher Blick von der Mutter und Dorothee
gewechſelt wurde. Die Frau zitterte; „wer hindert Dich
daran?“ fragte ſie. Richard ſah auf ſeine Schweſter. „Ich

kann gehen“, ſagte Dorothee raſch und ihr hartes Geſicht,

welches felten die Farbe wechſelte, wurde roth bis an die
Stirn.
„Nein, bleibe, Dorothee“, rief die Mutter gekränkt,
„warum ſollte er vor Dir Geheimniſſe haben?“
Aber die Schweſter war ſchon hinaus. Richard rückte
 
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