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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 71 - Nr. 78 (4. September - 28. September)
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öblatt.

Nr. 76.

Samſtag, den 21. September 1872.

5. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Schill ga ſſe l
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Zuchthäuslerin.
Novelle von J. Krüger.
(Fortſetzung.)

Alles im Hauſe ſchlief noch. Eben hatte die Pen-

dule des Zimmers erſt die ſechste Stunde verkündet.
Ungeſehen und ungehört ſchritt Herr von Handorf
durch die leeren Gänge nach dem Trauerſaale. Die
Thür war unverſchloſſen. Er öffnete und trat lang⸗—
ſam ein. Ohne daß der Diener ihn bemerkte — der-
ſelbe ſchlief noch feſt in ſeinem Lehnſtuhle — ſchritt
er auf den Katafalk zu und ſtieg die Stiegen hinauf.
Ein Erſtaunen, das an Schrecken grenzte, ergriff
den alten Herrn.
„Allmächtiger Gott! was iſt das?“ rief er, als er
das lebende Kind in feſter Umarmung neben dem ſei-
nigen ruhen ſah. Das iſt ja Reiner's Marie, die
ſich geſtern Abend ſo ſchmerzvoll von der Geſpielin
trennte. Was hat ſie hierhergeführt? Was? Warum
frage ich ſo? Die Liebe hat es gethan, die ſelbſt den
Tod überdauert. ö
Er betrachtete die rührende Gruppe eine Zeitlang
ſchweigend. Dann hielt er für Pflicht, das feſtſchlum-
mernde Kind des Schulmeiſters zu wecken, da die Ver-
weſung, welche ſchon Herrſchaft über die Leiche ge-

wonnen, der Geſundheit der Kleinen ſchädlich werden ö

konnte.
Er rüttelte ſie ſanft.
„Marie, liebe Marie, wache auf,“ ſagte er. „Was
thuſt Du hier? Wenn Andere als ich Dich hier fin·
den, wird man Dich ſchelten. Und Dein Vater — ge-
wiß weiß er nicht, daß Du hier biſt? Wie muß er
iud 1ſigen, wenn er Dich nicht in Deinem Bettchen
ndet.“ ö

Marie ſchlug langſam die großen dunklen Augen

auf. Dann richtete ſie ſich empor, ſtarrte noch halb

ſchlaftrunken den Freiherrn an, ohne ihn im erſten
Augenblick zu erkennen und fragte: „Warum weckſt Du
mich, lieber Vater? Ach, ich habe ſo wundervoll ge-
träumt.
„„Ich war mit Bertha auf einer ſchönen grünen
Wieſe. Wir pflückten zuſammen wilde Blumen und
wandten Kränze. Wir waren Beide ſo vergnügt, und
unun —“

„Veſinne Dich, gutes Kind, verſetzte Herr von

Handorf. „Du biſt nicht zu Hauſe. Nicht Dein Va-
ter, Bertha's Vater hat Dich geweckt. Du haſt Dich
ja zu ihr in den Sarg gelegt. Das darf nicht ſein.
Steh' auf und begieb Dich nach Hauſe.“
Indem er dieſes ſprach, hob er die Kleine von
der Seite der Todten hinweg und ſetzte ſie auf das

Trauergerüſt nieder.

Marie war jetzt völlig wach.
Eine unbeſchreibliche Angſt überkam ſie.
Mit gefalteten Händen und thränenvollen Augen
blickte ſie den Greis an. ö
„Ach, lieber gnädiger Herr,“ bat ſie, „ſtrafen Sie
mich nicht zu hart. Aber es litt mich dieſe Nacht nicht
zu Hauſe. Bertha war ſo allein, ſo ganz allein, und
wir haben uns im Leben ſo geliebt —“
Herr von Handorf ſtreichelte ihr tiefgerührt die
Wangen. ö ö ö
„Das weiß ich, gutes Kind. Ich zürne Dir auch
nicht — im Gegentheil — die Liebe, die Du meiner
armen Bertha zollſt, ſoll nicht unbelohnt bleiben. Wir
werden uns bald wiederſehen. Ich werde zu Deinem
Vater kommen, wenn die erſten traurigen Tage vor-
üher ſind. Dann wollen wir zuſammen von Bertha
plaudern. Du ſollſt mir von den fröhlichen Stunden
erzählen, die ihr mit einander zugebracht habt. Wir
wollen uns gegenſeitig Troſt zuſprechen.“
Mariens Antlitz überzog ein ſanftes Lächeln.
„Iſt dos Ihr Ernſt, gnädiger Herr?“
„Gewiß, mein Kind.“
„Und Sie kommen bald?“
„Ich ſagte es Dir ſchon.“
Die Kleine wandte ſich ſchnell der todten Freun-
in zu.
„Hörſt Du es, theure Bertha?“ rief ſie. „Dein
Vater will uns beſuchen. Wenn Dein Geiſt uns dann
umſchwebt, da wirſt Du hören, daß wir Dich nie ver-
geſſen werden.
In demſelben Augenblicke, wo Marie ſo ſprach, er-
wachte Friedrich. ö
Sich die noch ſchlafentrunkenen Augen reibend, rief ö
er: „Wer iſt da? Wer hat es gewagt, hier ſo früh
einzutreten?“
„Still, Friedrich,“ ſagte der alte Herr, „ich bin es
und die kleine Marie Reiner. Ich befehle Dir zu
ſchweigen. Niemand im Hauſe ſoll wiſſen, daß Du die
Kleine hier geſehen haſt.“ —
Der Diener nickte, zurr Zeichen, daß er ſeinem
Herrn gehorſam leiſten wolle.
 
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